Der K1-Saal im Veranstaltungszentrum Kampnagel in Hamburg ist gut gefüllt. Freudiger Applaus brandet auf, als der inzwischen 82-jährige Ulrich Wickert die große blau ausgeleuchtete Bühne betritt. Der „Ex-Mr-Tagesthemen“ weiß, was sein Publikum von ihm erwartet und kommt auch gleich zur Sache. Geschickt spannt er einen Bogen von seiner Journalistenkarriere zu seinem neuesten – dem immerhin Achten – Kriminalroman um seinen Protagonisten Jacques Ricou: „Der Raub im Tunnel“ (am 31.10.25 top-aktuell erschienen im Piper Verlag). Das ganze gespickt mit Anekdoten aus seiner Tätigkeit in Frankreich, wobei einige Staatsgrößen der letzten Jahrzehnte gar nicht gut wegkommen.
Im Rahmen des Krimifestivals herrscht in den Hallen nicht nur an diesem Novemberabend reges Treiben. Gleich mehrere Autoren*innen lesen zu unterschiedlichen Startzeiten im Halbstundenrhythmus aus ihren jüngsten Werken. Darunter z.B. Jean-Luc Bennalec (Kommissar Dupin-Reihe) und Sebastian Fitzeck.





Der Grand Seigneur ganz in seinem Element
Wenn auch sein Schritt nicht mehr ganz so geschmeidig ist, so hat der 1,96 Meter große Autor nichts von seiner Beredsamkeit eingebüßt. Mit der ihm typischen Mimik und Gestik agiert er im Rampenlicht wie eh und je, rückt hin und wieder seine Lesebrille zurecht, nimmt sie elegant ab und läßt seine Blicke im Publikum schweifen.
Im Grunde schreibt der vielseitige „Frankreicherklärer“ inzwischen Bücher am laufenden Band. Ja, es ist kompliziert … Laut seinem Wikipedia Eintrag sind es bisher 28 Sachbücher und nun acht Krimis; ein Ende ist nicht abzusehen.
Der ehemalige „Ankerman“ der Tagesthemen und „Mann der kritischen Beiträge“ in manch anderer Politsendung wie „Monitor“ traute sich schon immer was, gerade, wenn es um aktuelle Berichterstattung ging. „Hauptsache man hatte das Bild, egal woher. Über Genehmigungen oder Zahlungen könne die Redaktion im Zweifelsfall ja später noch verhandeln“. Heute – in unserer seltsam voken Welt – wohl eher ein Unding, das Konsequenzen haben würde. Alles eine Frage von Temprament, Wertschätzung und Selbstbewußtsein. „Eng“ wurde es für ihn nur einmal, als sich Präsident Bush von ihm durch ein Statement angegriffen fühlte und ihm Anti-Amerikanismus vorwarf.

Ulrich Wickert selbst, der in Tokio geboren ist und dessen Vater als Rundfunkattaché im diplomatischen Dienst war, lebt bis heute keineswegs in einem Tunnel, sondern nutzt nach wie vor seine Kontakte. Mindestens vier maßgebliche Tageszeitungen lese er täglich: drei Französische und eine Deutsche; alte Gewohnheit aus seiner Korrespondentenzeit eben. Geographisch pendelt er, der lange in New York, Washington und Paris gelebt hat, zwischen Hamburg und Südfrankreich. Dort im Süden entstehen auch überwiegend seine Bücher. Bis heute liebt er Croissants und Cafe au Lait wie er sie einst im Café de Flore zu einem lässigen Frühstück genoß. Über diese Zeit in Paris sagte er in einem Interview mit dem ZeitMagazin einmal: „Ich kann herrlich nichts tun … das ist die romantische Seite an mir“.
Schrieb er während seiner Zeit als Tagesthemen-Moderator und Berichterstatter überwiegend Sachbücher – man denke nur an die Bestseller „Der Ehrliche ist der Dumme“, „Mein Paris“ oder „Freiheit, die ich fürchte – der Staat entmachtet seine Bürger“ – drängte es ihn nach eigenen Angaben schon seit seiner Studentenzeit einmal einen Krimi zu schreiben. Als er 1963 ein Auslandssemester in den USA einlegte, kam er erstmals mit US-amerikanischen Autoren in Kontakt und verliebte sich in das Genre. Seitdem ist er ein Fan von Raymond Chandler.
Zunächst waren seine Verleger (Piper, Hoffmann & Campe), Lektoren und einige Freunde skeptisch und ließen ihn deutlich wissen, daß Sachbuchautoren wie er doch keine Krimis schreiben können. Das spornte ihn nur noch mehr an und belehrte sie eines Besseren. Beide Genres sind präzise recherchiert und mit scharfer Zunge verfasst. Davon abgesehen sind die Weltwirtschaft und das internationale Politikgeschehen mittlerweile einem fiktiven Krimi mindestens ebenbürtig. Nur anders als seine Sachbücher, sehen die Covers der Krimis immer recht düster aus. So auch der Einband seines neusten Werkes.

Bitcoin, Waffengeschäfte, Korruption
„Im Pariser Tunnel du Landy werden Untersuchungsrichter Jacques Ricou und seine Freundin Margaux Augenzeugen, als ein schwarzer Mercedes überfallen wird! Die Täter sind auf Motorrädern unterwegs und handeln überaus versiert: Durch die eingeschlagene Scheibe entwenden sie einen Aktenkoffer und verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Das Brisante: Im Koffer war offenbar ein Bitcoin-Schlüssel. Der Vorfall hat doch nicht etwa mit Ricous aktuellen Ermittlungen zu tun? Denn er untersucht den Mord an einem Richter, der zu viel über Geldwäsche mit Bitcoin…“ so der Wortlaut des offiziellen Trailers zu seinem Buch. Hier kann man einen Blick in’s Buch werfen. Gewidmet ist es ganz klassisch seiner Frau, den beiden Söhnen und seinem ersten Enkelkind Adrienne.
Mit seiner sonoren, rauchigen Stimme liest er einige Seiten aus vier verschiedenen Abschnitten vor, ergänzt um einige Erläuterungen zur Sach- und Faktenlage sowie der Örtlichkeiten. U.a. erklärt er auch die Namensfindung von Jacques, da so sein langjähriger Freund und Ricou eine befreundete Familie heißen; beiden würde es stets gefallen Erwähnung zu finden. Gerne gibt er seinen Protagonisten auch Spitznamen wie „Beton-Marie“, weil sie ihre streng gedrehten Locken mit viel Haarlack trägt.
Thematisiert werden die Korruption in den Ministerien ebenso wie die zweifelhafte Macht neuer Technologien und das Bestreben der Mächtigen an der Macht zu bleiben. Um die Verwirrung um den Fall noch zu steigern, bringt er schließlich noch den tödlichen Autounfall eines französischen Gesandten in Djibouti, das am Horn von Afrika liegt, ins Spiel.

Zur Steigerung der Spannung unterbricht er seinen Wortfluß manchmal und stellt geschickt rhetorische Fragen wie: „warum wußte die Polizei schon vor Entdeckung der Leiche von dem Geschehen und warum ….“ er hält erneut inne, „ja das alles erfährt man nur, wenn man das Buch ganz gelesen hat“. Leises Gelächter im Saal.
An anderer Textstelle, in der es zweifellos um die zweideutigen Machenschaften einer asiatischen Dame und Korruption geht, macht er gar einen größeren Exkurs. Unter anderem berichtet er verschmitzt wie es damals war, als Jacques Chirac als Bürgermeister von Paris (1977-1995) und späterer Präsident der Republik (1995-2007) aufgrund seiner politischen Immunität weitgehend einer Strafverfolgung wegen Vorteilsannahme im Amt entging und erst später mit einer Bewährungsstrafe davonkam. Bei Sarkozy und den Vorwürfen der illegalen Wahlkampffinanzierung durch Gaddafi, … mon dieu, er verdreht die Augen, da konnte man nicht mehr anders.
Bei alledem ist seine Wortwahl meist charmant, denn er liebt die Formen (fragt das Publikum, ob er sein Sakko ausziehen könne). Einige ältere Damen im Saal kommen ob seiner kleinen Sticheleien und amüsanten Sidekicks aus dem Kichern gar nicht mehr raus.
Ansonsten liebt er aber auch klare Ansagen, die ganz nebenbei oder gezielt in seine Lesung einfließen. So stuft er Leute die ihr Geld in Bitcoins anlegen (und glauben, daß es dort sicher und wertstabil angelegt sei) für reichlich dumm und hält eine ordentliche Erziehung und Ausbildung der Kinder für unerläßlich. Und überhaupt seien die meisten Menschen nur so lange liberal, als man ihrer Meinung beitritt – wie wahr.
Für einen Moment drängt sich (zumindest mir) die Überlegung auf, ob er die Grundzüge seiner Romane mit Kenntnissen und Vorkommnissen aus seiner Korrespondentenzeit ausschmückt oder ob die Romane selbst nicht schon um eben diese Erfahrungen herumgeschrieben sind. Ohne Frage versteht er es, die Realität in spannende Geschichten zu verwandeln. Andere Krimititel sind zum Beispiel: „Die Schatten von Paris“, „Das marokkanische Mädchen“, „Salut les Amis“ (laut Verlag eine sehr persönliche Darstellung seines Lebens in Frankreich) und „Der Richter aus Paris“ um nur einige zu nennen.
Mit den Lesungen und Signierstunden Werbung für seine Bücher machen, muß er indes nicht. Er macht es, weil es ihm sichtlichen Spaß macht!! „Schlagen Sie doch alle schon mal die erste Seite im Buch auf, dann geht’s schneller“ so seine Bitte in Richtung Warteschlange.



Privatmensch Wickert
Ulrich Wickert ist seit 2011 mit Julia Jäckel (ehemals Geschäftsführerin bei Gruner & Jahr) in dritter Ehe verheiratet. Aus der ersten Ehe hat er eine Tochter (*1969) und seit 2013 ist er Vater der beiden Zwillinge John und Ellie. Wenn er in Hamburg ist, wohnt er mit der Familie in Harvestehude. Wo genau, wissen nur wenige. Da er seine Bücher aber immer bei Heymann nahe dem „Eppendorfer Baum“ holt, dürfte sein Zuhause fußläufig in der Nähe liegen. In diesem Stadtteil sind auch die Tennisplätze Am Rothenbaum, der NDR und gutes Essen nicht weit, alles Dinge die ihm im Leben wichtig sind.

Am Herzen liegt ihm aber auch der Nachwuchs, denn zusammen mit seiner dritten Frau (heute 53 Jahre alt) gründete er 2011 die Ulrich-Wickert-Stiftung für Kinder; ferner ist er Pate eines Kinderhospizes.
Als 2019 eine Hamburger Kirchengemeinde 200 Pfadfinder, die dort seit Jahren ihren Standort hatten, aus ihren Räumen rausschmeißen will, schloß er sich den zahlreichen Protestlern offen an. Schließlich gehörten auch seine Zwillinge zu den Betroffenen. Wie auch immer, irgendwann war der Rauswurf der Pfadfinder vom Tisch.
Seine Kindheit verbrachte er, der neben all den Tätigkeiten und Terminen zeitweilig noch eine Honorarprofessur an der Hochschule Magdeburg-Stendal hat und aus persönlichen Gründen Schirmherr der Parkinson-Gesellschaft ist, von 1947 bis 1956 in Heidelberg.
Unter seinen zahlreichen Preisen und Auszeichnungen wie der Goldenen Kamera und dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, wurde er im November 2005 wegen seiner Verdienste um die deutsch-französischen Beziehungen zum Offizier der Ehrenlegion ernannt.
Wie Dinge sich gleichen können
Gleich zu Beginn der Veranstaltung berichtet er schmunzelnd, daß er das neben dem Journalismus betriebene Jurastudium nach dem Ersten Staatsexamen aufgegeben habe, da er schnell merkte, daß das Sitzen in einer Kanzlei nicht das richtige für ihn sei. Bestanden habe er wohl auch nur deshalb, weil er schon vor der letzten Prüfung angab, später nichts mehr mit Jura zu tun zu haben. In der Tat begann er unmittelbar danach als Hörfunkautor bei der ARD zu arbeiten.
Wie die Dinge sich ähneln. Mir ging es ähnlich, denn im Rahmen meines Wirtschaftsstudiums drohte einzig im Wahlfach „Wirtschaftsrecht“ ein Mißerfolg und der prüfende Professor gab deutlich zu verstehen, daß er einer Wirtschaftskarriere wegen mangelnden Jura-Kenntnissen nicht im Wege stehen wolle. Aber wie es im Leben so ist: Gleich in meinem ersten Job im Personalwesen bei einer zivilen Organisation der Amerikanischen Streitkräfte war es u.a. meine Aufgabe Arbeitsgerichtsfälle und Wohnungsübergaben zu begleiten. Naja, und auch Wickert zehrt in seinen Büchern heute noch von seinem juristischen Wissen.
Klassisches Finale
Nach unterhaltsamen eineinhalb Stunden endet das „Lesegespräch“ natürlich mit seinen legendären Worten: „Ich wünsche einen guten Heimweg, noch einen schönen Abend und … eine geruuuhhhsame Nacht.“
Wer ihn selbst erleben will, findet weitere Auftrittstermine auf den Seiten des Piper-Verlages. Am 03.12.25 gastiert er in Leipzig, am 04.12. in Erfurt, am 09.12. in Ulm und am 10.12. in München. „Der Raub im Tunnel“ kann überall unter der ISBN-10. 3492072860 bestellt werden … und wie ER, der Diplomat auf dem verbalen Parkett ganz nebenbei anmerkte: es eignet sich auch als Weihnachtsgeschenk.
