Die Sonne strahlt vom Himmel, aber es weht bei 3 Grad ein eisiger Ostwind. Jedes Jahr um diese Zeit ruft eine besondere „Mission“. Mal war es eine Tiersegnung auf einem bekannten Gnadenhof, mal eine Andacht vor der „Stillen-Nacht-Kapelle“ im österreichischen Oberndorf nahe Salzburg. Im Vorjahr war es ein Gottesdienst auf Plattdeutsch in der schwimmenden Seemannskirche, dieses Mal ist es ein für St. Pauli typisches Kontrastprogramm.



10.30 Uhr Talstraße 11-13, Hauptquartier der Heilsarmee
Mit einem kleinen Gabensack geht es zunächst zur nahe gelegenen Wärmestube, die zu meiner Überraschung jedoch geschlossen hat. Kein Spaß für diejenigen, die gerade in den Wintermonaten mehr oder weniger auf der Straße leben. Laut Schätzungen sind dies in Hamburg rund 4.000 Personen. Die meisten tun dies mehr oder weniger freiwillig, weil sie sich nichts vorschreiben lassen und auch nicht permanent beraten werden wollen. In den meisten Stadtteilen gibt es in der Regel Wärmestuben, Suppenküchen und Kleiderkammern von behördlichen und privaten Organisationen.
Eine der bekanntesten Institutionen ist bis heute die Heilsarmee. Gegründet 1865 in London ist sie weltweit in über 130 Ländern aktiv bzw. unterstützt Bedürftige, Obdachlose, Süchtige und bietet Kinder- sowie Katastrophenhilfe an. Unter dem Motto „Suppe, Seife, Seelenheil“ verbindet ihr Kernauftrag soziale Arbeit mit Evangelisation. Früher sah man die adrett gekleideten Herrschaften in den blau-roten Uniformen häufiger in den Fußgängerzonen mit der Sammelbüchse.
Bei Eintreffen hantiert eine Mitarbeiterin gerade an einer elektronischen Begrüßungstafel am Türrahmen. Am Abend soll in dem großen Gebäude wie üblich ein Weihnachtsessen für ca. 150 bedürftige (Stamm-)Gäste stattfinden. Ich werde freundlich herein gebeten, um meine kleine Socken- und Teespende auf einem Tischchen abzustellen. Schnell komme ich mit der Dame ins Gespräch, die sich als die Standortleiterin bzw. Frau „Majorin“ Walz höchstpersönlich entpuppt. Die Heilsarmee pflegt bis heute nämlich nicht nur das Tragen von Uniformen, sondern auch die Gliederung in militärische Ränge. „Letztlich tragen auch die Pastoren eine spezielle Tracht“, so Mareike Walz. „Und zudem schafft die Uniform auch Vertrauen und Sicherheit den Mitarbeitern und umgekehrt der Gesellschaft gegenüber“. Ohne Frage gute überzeugende Argumente. Auch heute Abend werde sie zur Andacht und dem anschließenden Essen die (nicht immer so bequeme) Uniform selbstverständlich wieder tragen.
„Nein, mit der Gulaschkanone sei man inzwischen nicht mehr unterwegs“, Walz lacht. „Das sei schon aus hygienischen Gründen heute nicht mehr vertretbar“. Die meisten Nahrungsmittel erhalte man von „Den Tafeln„, das üppige Weihnachtsessen mit Gulasch und Ente (auf Wunsch auch vegetarisch), wurde aber konkret von Spendengeldern gekauft.
Da alle Liegenschaften in denen die Heilsarmee agiert sind auch in deren Besitz befinden und man in Hamburg neben den vier Angestellten viele ehrenamtliche Helfer habe, käme man finanziell auch in schwierigen Zeiten ganz gut über die Runden. Das große Backsteinhaus in der Talstraße mit dem historischen, denkmalgeschützten Saal im Hochparterre ist seit über 100 Jahren im Besitz der Heilsarmee und bedarf der Pflege. Man freue sich trotzdem über jede noch so kleine (Sach-)spende.
Ja, meist sind es Männer, die Hilfen in Anspruch nehmen, aber auch die Zahl an Frauen und Kindern nähme zu. Für sie habe man am Mittwoch inzwischen eine eigene Besuchszeit eingerichtet. Das Alter der Gäste sei hingegen schwer zu schätzen, das Leben auf der Straße lasse mindestens 10 Jahre früher altern.
Ihr Mobiltelefon klingelt nun erneut, aber sie hat sich die Zeit für das Gespräch genommen, obwohl für den Abend noch einiges zu erledigen sei. „Danke Frau Walz und Frohes Fest“.

12.00 Uhr Mittagsandacht im Michel, Englische Planke 1
Zum Michel sind es von der Reeperbahn/ Ecke Talstraße aus nur gut 15 Gehminuten. Auf der „sündigen Meile“ ist um diese Zeit nicht viel los und nur wenige Menschen und „Gestrandete“ sind unterwegs. Unvermittelt hält auf meiner Höhe ein BMW und ein jüngerer Mann in einer Art roten Nikolaus-Outfit steigt aus. Zügig strebt er auf einen gebrechlichen Mann mit Trolli zu und übergibt mit netten Worten schnell und anonym eine Lebensmitteltüte. Dieser macht eine kleine Dankesgeste, weiß gar nicht, was er sagen soll. Typisch Reeperbahn – alles ist möglich.
Noch rechtzeitig erreiche ich St. Michaelis, um der kurzen Mittagsandacht mit Orgelkonzert zu lauschen. Das Klangspektrum der drei Orgeln ist einfach unbeschreiblich und der helle weiß-goldene Innenraum strahlt hanseatische Eleganz aus. Dieser Ort ist freilich eine ganz andere Welt, aber jeder mag entscheiden, wie er leben und den Weihnachtstag verbringen möchte. Einen Moment innehalten, mag selbst derjenige, für den der christliche Glaube schwer zu fassen ist.



13.00 Uhr Einkehr im Elbschloßkeller, Hamburger Berg 38
Nur 30 Minuten später beschließe ich auf dem Heimweg noch auf einen Sprung im Elbschloßkeller vorbeizuschauen – der „Kiez-Kneipe, die niemals schläft“. In der Tat ist das Traditionslokal im Souterrain schräg gegenüber der ebenso legendären „Honka Stube“ und des „Goldenen Handschuh“ rund ums Jahr 24/ 7 geöffnet. Was hat sich hier – im positiven und negativen Sinne – nicht schon alles abgespielt. Mittelpunkt des Geschehens ist Betreiber Daniel Schmidt (41 J.), der seit seinem 18. Lebensjahr hier arbeitet und längst die Kultkneipe von seinem Vater übernommen hat.
Vor der Tür streiten ein paar Passanten darüber, ob der gleich neben dem Eingang befindliche Geldautomat das ausgespuckt hat, was man haben wollte. Kleinkram. Aus dem Elbschloßkeller dringt durch den zerschlissenen Vorhang laute Pop-Musik. In der Mitte eine Art Poledance Stange, aber von schrill gerade keine Spur. Eher eine „Gemeinsam-Einsam-Atmosphäre“ wie an einem beliebigen Tag. Und doch: In der Ecke ein Tisch mit einem Herz aus brennenden Bunkerlichtern und einigen Rosen. Davor ein prall gefüllter schwarzer Rollkoffer, der keinem der anwesenden Gäste zu gehören scheint. Schmidt wird es wissen und sicher wird er auch an den 04. Februar diesen Jahres zurückdenken, als sein Türsteher Lars K. von abgewiesener Kundschaft angegriffen wurde und ein paar Tage später einer Hirnblutung erlag. So einen Vorfall stecken auch Hartgesottene nicht einfach so weg.
Selbst am 24.12. steht der stattlich gewachsene Chef mittags hinter dem Tresen und hat stets alles im Blick. Über dem Flaschenregal, das mit ein paar Weihnachtskugeln dekoriert ist, prangt ein Schild: „Heute Betreutes Trinken“. Hin und wieder ein Gähnen. Kein Wunder, das fale Licht und die rauchige Luft macht schon per se schläfrig. Aber wahrscheinlich hat er bereits die Nachtschicht hinter sich und wird bald abgelöst. „Was darf’s sein?“ Mein Mann und ich entscheiden sich zum Aufwärmen spontan für einen Sambuca und setzen uns an an den einzigen freien Tisch. Ein paar Leute kommen und gehen; meist wird Bier konsumiert. Ein paar Männer starren oder dösen vor sich hin. Als Elvis in die Tasten haut, erwacht der gepflegt wirkende Gast im grünen Parker hinter uns und trommelt mit den Fingern kurz zur Musik. Unvermittelt sucht er Blickkontakt und beginnt ein Gespräch. Darüber, was es bedeutet im Leben eine Haltung zu haben und entgegen der Wahrheit sensationslustig nur Klicks und Likes hinterher zu jagen, wie so mancher Reporter. Offensichtlich hat er da so seine Erfahrungen gemacht. Er ist bei Leibe kein Looser, er hat etwas zu sagen und doch scheint er hier gestrandet. Von sich aus sagt er „Familie?“ – die sei für ihn gestorben. Dabei macht er die typische Handbewegung unterhalb der Kehle.
Unvermittelt ist inzwischen ein jüngerer Gast an unseren Tisch getreten und mischt sich in das Gespräch. Er hätte heute Freigang und trüge eine elektronische Fußfessel, wie ich das finden würde und ob er sich dazu setzen dürfte? In der Tat blitzt unterhalb des Hosenbeines am Knöchel so Ding hervor.
Ich rücke etwas nach rechts und schon legt er den Arm um meine Schulter. Sein Alter gibt er mit 35 an. Ob ich zusammen mit dem Mann am Tisch da wäre und wisse, was der so mache? Hmm, ja. Ich bin seit 40 Jahren mit ihm verheiratet und er sei Rechtsanwalt. Mag die Ehe ihn nicht beeindruckt haben, so doch kurz das Thema Strafverteidiger.
Auch dem Chef hinter der Theke blieb diese Annäherung nicht verborgen und er fragt mit Dauen hoch quer durch den Raum, ob alles in Ordnung sei. „Wenn er komisch wird, einfach Bescheid sagen“. Mir liegt es fern, die Gäste auszufragen, warum sie heute oder desöfteren hier sind. Offensichtlich hat jeder seine ganz eigene Geschichte parat, egal ob Realität oder Geflunker. Sei es um sich interessant zu machen oder sich umgekehrt vor unliebsamen Fragen zu schützen.
Gemeinsam einsam sind die freiwilligen oder unfreiwilligen Singles jeden Alters aber nicht nur in den unzähligen Kneipen, letztlich auch in den Gottesdiensten. Man kommt zusammen, vernimmt mehr oder weniger das gesprochene Wort und geht wieder auseinander – jeder seines Weges.
Beim Raustreten blinkern um die Ecke drei Polizeiwagen; die Davidwache ist ohnehin schräg gegenüber. Irgendwas ist halt immer …. Der blaue Himmel lacht noch immer und die Elbe glitzert im Sonnenlicht. Weihnachten und der Jahreswechsel können kommen; so entspannt war ich schon lange nicht mehr.
