… ein geradezu bewegendes, für mich fast philosophisches Textdokument von Götz B., das ich während der Corona-Schließzeiten von ihm erhielt und das meines Erachtens aber immer aktuell und lesenswert ist. Insider werden ihn sofort als die „Kiezgröße in Weiß“ erkennen.

Ja, das alles fand im (Teil)-Lockdown eine Nummer kleiner und im Verborgenen statt und bleibt doch Teil unserer Gesellschaft. Man mag es auch ein Ventil unserer Gesellschaft nennen – und das ist gut so.

Ich schätze Götz sehr und durfte ihn seit dem Sommer 2020 in Hamburg näher kennenlernen. Wir haben viel geredet, uns gegenseitig geradezu analysiert. Er hat gelernt mit Statements bedächtig umzugehen, öffnet sich aber, wenn man selbst Ehrlichkeit bzw. ehrliches Interesse an St. Pauli zeigt und nicht als Voyeur oder Effekthascher unterwegs ist.

In TV-Berichten kam er, der in der Szene auch als „White Dandy“ bekannt ist und im Kirchenchor singt, zur Situation von St. Pauli schon oft zu Wort. Was treibt ihn an, warum bleibt er auch im Alter (m.W. ist er inzwischen 68 Jahre alt) auf St. Pauli  usw. … Ist es eine Haß-Liebe oder doch eine sehr individuelle Liebeserklärung? Auch Nicht-Hamburgern sollte seine höchst eigene Art der Beschreibung unter die Haut gehen, … nicht nur zur Weihnachtszeit, in der die Szenerie spielt.

Es ist dunkel und kalt. Freitag. Abend.

Vor der Davidwache steht eine Traube von Menschen. Der „blonde Hans“ erzählt Geschichten mit Mikro und Lautsprecher.

„Mit Handschellen vom Sexclub in die Davidwache.“ 30 Personen hören zu und ich sehe, sie bekommen, was sie erwartet haben.

Ein paar Schritte weiter..

Etwa 25 Personen mit „Transenführung“ warten vor dem St. Pauli  Museum. Ein Pulk von 40 Menschen um Olivia Jones verläßt gerade – mit Bier in Pappbechern, da Flaschen am Wochenende verboten sind – die Räume.

Entertainment …“Das wilde St. Pauli“….

—————————————————-

„Urbanes wohnen mit Eigentum, Balkon und Hafenblick “  so die Schlagzeile eines Immobilienportals.

—————————————————

09.00 Uhr morgens

Du trittst aus der Haustür und mittenrein, „Scheiße“ !  Das Zeug klebt unter deinen Füßen. Die vorverdauten Reste der Nacht von McDonalds klebt noch an der Ecke der Hauswand.

Nahrung für die Tauben – „bitte spülen“

————————————————————————————————-

Der Nebel legt sich ums Haus.

Ich schau aus dem Fenster … nach Gegenüber im Hof von der fünften in die dritte Etage.

Jeden Abend seit mehr als 20 Jahren steht er jeden Tag zwischen 22.40 und 23.00 Uhr am Herd und kocht, bereitet den morgigen Tag vor … dann ab zur Arbeit, wie jeden Tag.

——————————————————————————————

Dreißig Jahre wohnen auf dem Kiez, direkt neben der Herbertsraße.

Das hinterläßt Spuren …

Seit den 70ern wohne ich in Hamburg – also nen Quiddje – natürlich war da der Kiez auch nachts Anlaufpunkt …. und es war anders, ganz anders … manches besser und manches ebenso häßlich.

Ein riesengroßer Unterschied ist jedoch da: Es gab Zeit für Entwicklung … keine Trendscouts, Uriges, Besonderes … kleiner, überschaubarer. 

Okay, Zeiten wandeln sich … „Unternehmen kommen und gehen“

So ist es, so war es, so wird es immer sein.

————————————————————————————————

Vor dreißig Jahren bin ich hierhergezogen,  Zweier-WG, es gab günstigen Wohnraum in einem lebendigen Stadtteil.

50 Quadratmeter für 240 DM,  nun gut die kostet jetzt 500 € – immer noch günstig. Das wird sich sehr schnell ändern, wenn hier renoviert und saniert wird.

Lebendig ist es immer noch, nur nicht mehr so sichtbar.

Veränderungen. St. Pauli wird nicht verschont.

————————————————————————————————-

Abriß des Brauereigeländes

… mit dem unsäglichen Anliegen und der Diskussion “ es sauberer“ zu machen, keine Straßenprostitution.

… was ja immer noch durchschimmert … vom jahrelangen Brachliegen des  Spielbudenplatzes, des Hafenkrankenhauses. Das Schmidt und das Tivoli, Hafenstraße, Sterben der Peepshows, Sexclubs, zwei Kinos sind verschwunden, Lampedusa, Park Fiction bis zum Abriß des „Esso-Geländes“, die Tanzenden Türme …

———————————————————————–

Gentrifizierung

… und den damit verbundenen Demos, Streitigkeiten und Initiativen.

Mit dem Ganzen hat sich nun auch der letzte öffentliche „Fickschuppen“, das Safari in der Großen Freiheit flachgelegt, zu Gunsten elektronischer Befriedigung.

‘Nen paar Bars bzw. Kneipen haben überlebt und ’nen paar machen neu auf …schaun wir mal, wie das funktioniert.

————————————————————-

Nicht leicht

… St. Pauli ist mehr als nur Reeperbahn mit ihren gut 900 Metern und den kurzen Strecken drum rum …. eben nicht reduziert auf die Vergnügungsmeile.

Doch das  sog. Zentrum, bestimmt den Stadtteil, ob ich will oder nicht.

——————————————————

Wer das nicht akzeptiert, ist ewig unzufrieden!

Aus der (Menschen)Überflutung scheint sich schon immer eine dörfliche Exklusivität entwickelt zu haben ; um sich selbst zu schützen vor der völligen Vereinnahmung.

————————————————————-

Das verursacht sehr eigene Geburten …!

Eine herzliche Spießigkeit, mit revolutionärem Charme, alternativen Lebensweisen, Sex-Geschäft, Crime, Vergnügen, Menschlichkeit und Respekt „Leben und leben lassen“

Und manchmal auch einer gewissen „Gleichgültigkeit“ oder besser „Ach Nee“, geschäftliches Know How mit einer Portion Abgebrühtheit. Man würde sagen: Lebensweisheit !! Erschöpfung ?

——————————————————————

Für den Außenstehenden nicht faßbar

… und vielleicht genau das, was den Charme und letzten Endes die Besonderheit vom Kiez ausmacht.

Nicht verkaufbar? … – aufpassen – … wenn das passiert, ist es tot hier und nur noch ein künstliches Gebilde – Budenzauber, Kirmes.

Seit ich hier wohne und arbeite (seit ca. 15 Jahren – ich hatte hier 12 Jahre ein eigenes Geschäft: Groß- und Einzelhandel in der Schmuckproduktion) ist der Hauptbahnhof schon Ausland geworden.

Heißt also tief verwurzelt !!

———————————————————————

Alles hier scheint für viele Außenstehende eine solche Faszination ausüben

... dass Filme gedreht, universitäre Untersuchungen, Berichte erstellt, Interwies gegeben, Bücher geschrieben und Initiativen gebildet werden.

Immer mehr … jeder hat seinen besonderen Grund … kombiniert mit den 150 Stadtführungen … Pulks von Menschen..

Peepshow St. Pauli … untersuchen, beglotzen …Versuchskaninchen … Modelle entwickeln.

———————————————————

Brennglas St. Pauli.

Manchmal müde damit ! Ok … und Tür zu … is meins!

Ziehen wir doch einen Zaun um den Spielbudenplatz mit kleinen Gucklöchern.

1 € reinwerfen: Zwei Minuten das wirkliche Leben auf St.Pauli.

——————————————————-

Man mag jetzt sagen, St. Pauli war immer schon ein Safari-Park

… ’ne riesen Show. Klar doch … mit einem großen Unterschied: es hat sich langsam aus sich selbst heraus entwickelt … aus Geschichte und Eigenart.

Zum Glück wird da wieder ein wenig neue Geschichte geschrieben. Kultur, kleine Clubs, Reeperbahnfestival, Theater.

Das sind dann die Besucher,  die mit einer Absicht hier her kommen, wo Vergnügen nicht nur vergessen bedeutet … „mehr davon bitte“

————————————————–

Und jetzt?

Riesige Veranstaltungen werden durch den Trichter Reeperbahn geschoben – big, bigger, doll-big. Und werden hingenommen, weil ja Geschäfte leben müssen … angeblich.

Doch was bringt es, wenn die Bierflaschen im Kiosk gekauft und dann mit in die Bars genommen werden? „Darf ich mal zur Toilette? Nix da … trink was, dann gerne.“

—————————————————

Stichwort : Schlagermove

… jemand hebt die Hände. Klar, er wohnt auf St.Pauli.

Schon mal ausgerechnet, was 350 Dixiklos – inzwischen über 500 – verteilt auf 500.000 Leute bringen, von denen jeder mindestens einmal in 8 Stunden pinkeln muß und jedes Pinkeln eine Minute dauert ?

500 000 x 1 Minute geteilt durch 350 Dixis in 8 Std.? Da muß der Trichter überlaufen.

Der 7te Kiosk auf der Davidstraße, die Dönerbunden, Ballermann große Freiheit … usw. usw.

———————————————————

Sex im Geizclub

… für 39.95 €, sorry für 39.- € … fehlt nur noch zu Zweit 5 € weniger … oder  „Winterschlußverkauf“ – das wär doch mal was!

Das ist nicht einmal böse gemeint, und  „Gott bewahre“, das hat nix mit Moral oder wer weiß was zu tun. So ist es. Geschäft ist Geschäft.

———————————————————

Sehnsuchts-Station (wildes) St. Pauli.

Ich bin immer wieder erstaunt, was viele Touristen staunen, wenn sie hier her kommen:

„Hier wohnen Menschen?  Ich dachte, das seien überall kleine Puffs.“

Museumstouren auf St. Pauli. Jetzt bemüht sich jeder darum noch etwas vom großen Kuchen abzukriegen. Ok!

St. Pauli als Marke … vermarktbar. „Versteh‘ schon“, doch eine Marke ist irgendwann nicht mehr trendy.

Wenn ich ein paar Menschen – das nennt man wohl heute „sanften Tourismus“ – durch den Stadtteil führe und in der Schmucktraße stehe, bei den Transen bzw.  dem Transenstrich vorbeigehe … an einem der letzten schmuddeligen Häusern … so komisch es klingt:

„schön, dass es sie gibt „— St. Pauli war und ist nie glatt gewesen — Gut so!

—————————————————–

Die Punker auf der Reeperbahn.

Da gibt es keine Lösung; wenn‘s eskaliert, wird geklärt bis zum nächsten Mal. Was nervt sind die Dealer … zu viele geworden. Auch da gibt es keine endgültige Lösung.

Eben St. Pauli … es ist keine Insel  – “ doch, manchmal schon“.

—————————————————

Ich wohne hier und hasse und liebe es.

Resultat : irgendwie Pattex (Kleber). Derjenige, der hierher zieht, um IN zu sein. Mein Gott, auf dem Balkon sitzen und sich das urbane Leben anschauen? Pech gehabt, das ist kein Fernsehprogramm. Kein Film, der irgendwann zu Ende ist.

Leute, so ist das nicht … zum Glück, denn Leben geht nicht mit Knopfdruck aus !

———————————————-

„Moin Götz“

Oft kenn‘ ich nicht einmal die Namen, aber ich kenne sie und sie kennen mich.

Das kommt nicht von heute auf morgen, dazu braucht es Zeit … besonders hier.

Natürlich gibt es das noch : den „Charme von St. Pauli“ ( ??) … würde ich sonst hier noch wohnen?

——————————————-

Es gibt drei St. Paulis

Vor dem Einfall, während des Einfalls und nach dem Einfall der Touristen

—————————————–

Eine Oase ist der Nachtmarkt.

Sitzen an Tischen, Treffen … eben keine „Rinderhalle“ (das war wohl auch anders gedacht).

Frage ich die Marktbeschicker, sind sie gerne hier, weil es anders ist.

Schön so, die kleinen Cafes hinter der Simon -von-Utrecht-Straße … oder Touris gaffen vorm Hotel Monopol – herrlich .

Ja, es gibt noch Menschen, die das, was sie tun, mit Herzblut machen; auch direkt auf der sogenannten sündigen Meile ! Das ist sowas von notwendig, sonst wird es vollends reiner Budenzauber und Fassaden-Meile.

————————————————-

Eine kleine Story von der Postbotin, die früher hier ausgetragen hatte:

Obdachloser : „Haste mal fünf Mark … bekommste  wieder, wenn ich meine Sozi kriege.“ Klar hat sie ihm die gegeben, und sie bekam ihre 5 Mark zurück … diese Selbstverständlichkeit hat sich geändert.

————————————————————————————————

Wenn ich zurückkomme in der Nacht, von Messen oder Besuchen, auf die Reeperbahn:

… Leuchtreklame, blinkende Lichter, leere Bürgersteige …

sogar die tanzenden Türme haben ein Stück Heimat bekommen … irgendwie riecht es nach Leben. Wie schön die Neonlichter….

———————————————————–

Was alle hier verbindet

… ist das tiefe Fühlen und Wissen um den Menschen. Jeder muß mal Pinkeln gehen und das „innere“ Elend oder die Freude ist bei allen letzten Endes gleich; wenn die Schutzmauern fallen, eben ehrlich und nicht immer easy!

Biste nicht mit Herz und Bauch hier, dann wirst du nie zu Hause sein und dich sicher fühlen. Entweder sagst du ja und dann hat auch der Nerv hier ein Zuhause … oder du mußt gehen.

—————————————————-

Alles oder „geht gar nich‘!“

Dieses Stückchen Geheimnis wird nicht verkauft … Wie sagte jemand hinter dem Tresen spät in der Nacht … „Sie müssen nicht alles wissen“.

—————————————————-

Zum Abschluss noch eine kleine Geschichte

… aus der Kategorie: „Wenn ‚ se alle weg sind und nur noch die hier sind, die hier sein müssen oder wollen.“

—————————————————–

Eine Weihnachtsgeschichte – St. Pauli –

——————————————————

Heilige Dildos und einfache Engel.

Es ist ruhig geworden … hier auf dem Kiez, der Reeperbahn und drum herum.

Unten in meinem Haus hat noch der Laden geöffnet – wie immer – bis 24 Uhr

Mit Gemüse, Zigaretten, Alkohol … eben der ganz normale Betrieb.

Welche Rettung für die „Daheimgebliebenen“.

Von Ferne läuten die Glocken für den ersten Weihnachtsgottesdienst. Die Kirche ist voll, wie es sich gehört.

Langsam wird es dunkel und aus den Fenstern leuchten die ersten Kerzen … elektrisch.

Das ist sicher und einfacher … doch die flackernde Wärme vermisse ich.

Als ich klein war, genau um diese Zeit 17 Uhr… Stress… fertig.

Es gab Würstchen mit Kartoffelsalat. Die Kraft war verbraucht für den „Heiligen Abend“, Geschenke, Tannenbaum schmücken … für das große Essen am ersten und zweiten Weihnachtstag.

Ungewöhnlich klar draußen … sogar der satte Regen hat aufgehört. „Heilige Nacht“ heute. Selbst der heftige Wind, der sonst die Wolken über den Hafen und die Dächer fegt, legt sich langsam zur Ruhe … es ist still geworden.

Die ältere Frau mit ihren langen, grauen Haaren und dem einfachen, etwas zerschlissenen Mantel, kauft zwei Flaschen Korn … weiß nicht so recht, wie sie den Beutel halten soll – steht an der Tür  … schaut mich an: „Können Sie mir helfen“ die beiden Stufen zum Fußweg.

Ach, das ist Ihr Fest … Schnaps und Träume fürs Vergessen … Noch ist sie nicht ganz unten. Geschafft, der Körper lebt … und die Sehnsucht ? Die Augen sprechen Zärtlichkeit … sind warm. Der Mantel, eigentlich ganz in Ordnung, die Haare sauber … wie lange noch?

In Ihrem Leben in dieser Nacht … wohl einsam …“Schöne Weihnachten“, kleine Worte zum Abschied. Die Berührung der Steinstufen; ist das ihr kleines Licht, wird es bald wieder versinken?

Es ist grau und ganz ruhig … wo sich sonst 364 Tage im Jahr die Menschen drängeln auf der Suche nach Vergnügen und Vergessen.

Um 22 Uhr geht‘s zum Chor – singen, wie jedes Jahr… Meine Nacht !

Heilige Dildos und gefallene Engel der Lust. Halleluja.

———————

Liebe hat nicht das Gesicht, das wir meinen zu kennen. Welch ein Trost.

 

P.S. Treffender als der Maler M. Jürgens Götz hier eingefangen hat, kann man ihn nicht abbilden – besser als ein Foto. Gut so, daß ich gerade kein gemeinsames Foto von uns beiden finde; die Realität würde den Moment nur stören.

print
Autor

Write A Comment