Gleich am ersten Tag der DM Finals, die vom 06. bis 10. Juni in der Frankfurter Süwag Arena ausgetragen wurden, liefen die beiden Gymnastikgruppen aus der Pfalz zur Bestform auf. Titelverteidiger TV Dahn gewann – zu französischen Klängen als Reminiszenz an Paris – souverän den Mehrkampf mit 52,25 Punkten. Vice-Meister wurde das Team des TB Oppau (s. Foto auf der Tribüne) mit 46,45 Punkten, das sowohl mit dem Reifen, als auch der Ball-Band-Kür überzeugte und mit einer lautstarken Fangemeinde angereist war.

Stars des Nachmittags waren jedoch die Einzel-Gymnastinnen Darja Varfolomeev (Schmiden) und Margarita Kosolov (Potsdam). Zudem endete der Mehrkampf mit einer kleinen Überraschung, denn Mehrfach-Weltmeisterin Varfolomeev konnte ihrer Mehrkampf-Favoritenrolle nicht ganz gerecht werden und mußte die Teamkollegin mit 0,3 Punkten Vorsprung knapp an sich vorbeiziehen lassen.

Die DM Finals des Deutschen Turnerbundes standen im Vorfeld von Olympia ganz im Zeichen von Star-Gymnastin Darja VARFOLOMEEV. Zwar hofft auch der Trampolinturner Fabian Vogel (Bad Kreuznach) in Paris das Finale zu erreichen und rechnen sich Turnerinnen wie Pauline Schäfer-Betz oder Sarah Voss an einzelnen Geräten Chancen aus, die Medaillenhoffnungen aber liegen bei der gertenschlanken Artistin aus der Meisterschmiede Schmiden. Letztes Jahr hatte Varfalomeev überraschend den absoluten Headrick gelandet und bei den Weltmeisterschaften in Baku alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Also alle vier Einzeldisziplinen Ball, Band, Keule und Reifen sowie den Mehrkampf.

Bei den Europameisterschaften in Budapest Ende Mai 2024, lief es für die amtierende Fünffach-Weltmeisterin der Rhythmischen Sportgymnastik (RSG) jedoch noch nicht ganz rund und sie belegte im Mehrkampf Rang 3 hinter dem bulgarischen Shootingstar Stiliana Nikolova und der gewohnt selbstsicher auftretenden Italienerin Sofia Raffaeli. In der Einzeldisziplin mit dem Band war sie jedoch unschlagbar und holte sich den EM-Titel. Kollegin Margarita KOSOLOV (Potsdam) belegte im starken Mehrkampffeld immerhin Platz 7.

Und so war der Kampf um die DM-Titel in der RSG auch einzig ein Zweikampf, auch wenn sich die Drittplatzierte Anastasia Simakova (ebenfalls Schmiden) sehr gut zu präsentieren wußte. Die neuen Küren wollen eben immer wieder erprobt sein und so bot die DM für die Gymnastinnen ein gutes Forum. Schon eine kleine Unsicherheit wie ein Nachgreifen zum Handgerät, eine leicht aus der Achse gekippte Piourette oder gar ein Gerätverlust können bei der internationalen Leistungsdichte das Ende aller Träume bedeuten. Je Handgerät sind in 90 Sekunden 20 Elemente zu absolvieren, eingebettet in eine ansprechende Choreographie über die 14 x 14 Meter große Fläche. Wiederkehrende Elemente sind dabei Spagatsprünge, Spagatpiouretten, blindes bzw. hinterrücks fangen der Handgeräte, hohe Würfe und Rollen; alles hübsch serviert in geschmeidigen Wellenbewegungen (mit Band, Ball, Reifen) oder exakten Trommelwirbeln mit den Keulen. Eine Wertung um die 37 Punkte ist dabei so ziemlich das Maß aller Dinge.

Die 20-Jährige Margarita Kosolov hat dabei ganz ihren eigenen, sehr dynamischen Stil, den sie mit der Musikwahl unterstreicht. Ihre Spezialität sind die horizontalen Butterfly-Sprünge, die sie insbesondere in der Bandübung herausstellt. Ihr Temperament zeigt sie m.E. aber noch besser in der Kür mit den Keulen.

Die 17-Jährige gertenschlanke „Dascha“ Varfolomeev turnt den höheren Schwierigkeitsgrad, ihre Programme sind somit aber auch fehleranfälliger. Die 1,70 große Gymnastin (47 kg) ist eher ein klassischer Typ, kann aber auch „modern“. Ihre Ballübung zu einem Michael Jackson Medley ist ein Genuß und doch passierte ihr an Tag 2 genau dabei und in letzter Sekunde das Mißgeschick, d.h. der schwarze Ball kullerte beim letzten Takt der Musik über die Fläche in’s Aus. Ihre Spezialität sind zweifelsohne die Piourettenstände, die aufgrund der zahlreichen Umdrehungen vergessen lassen, daß da Füße und keine Schlittschuhe rotieren.

Das sechs Meter lange Band mit dem dünnen Haltestäbchen muß immer in Bewegung sein, Schlangen oder Wellen zeichnen, sowie geworfen werden, je höher um so besser. Der Supergau tritt dann ein, wenn sich am Bandende während der Kür ein Knoten bildet. Dann kann die Übung erst nach Entknoten fortgesetzt werden, sonst fliegt das Band nämlich nicht und zeichnet keine schönen Spiralen. Zeit- und Punktverlust sind die Folge. Die Bänder aus Seide sind natürlich immer perfekt passend zum Kostüm in 2-3 Farben gefärbt. Grund: das abwechselnde Farbspiel, also die Bandmusterung erzeugt beim Wedeln eine optisch höhere, wünschenswerte Geschwindigkeit.

Die Interpretation der Musik beherrschen beide Protagonisten meisterhaft, jede auf ihre Art. Am Ende bzw. nach den vier Einzeln am 07.06. war die Welt für Varfolomeev wieder halbwegs in Ordnung. Sie gewann sowohl Reifen, Keule und Band und mußte M. Kolosov nur beim Ball durch das besagte Mißgeschick den Vortritt lassen.

Im Verlauf der Pressekonferenz gaben sich beide zuversichtlich bis Paris die Programme noch weiter optimieren zu können, wobei die junge Darja doch einen etwas verunsicherten Eindruck machte. „Ja, die seit den Europameisterschaften geänderten Elementfolgen sitzen noch nicht, aber sie habe ja auch noch vier Wochen Zeit“. Unter Training verstehen beide ein Pensum von sechs Tagen pro Woche und bis zu 10 Stunden täglich. Der Erwartungsdruck – vor allem an sich selbst – ist freilich hoch. Zu wissen, daß die Chance eine olympische Medaille zu gewinnen nach Paris kaum wieder kommt, lastet schwer. Hauptsache sich nicht verletzten. Denn einige Gymnastinnen versuchten den Schmerz während ihrer Übungen zwar tapfer wegzulächeln, doch kaum in der Kiss & Cry Corner angekommen, sah man das ein oder andere schmerzverzogene Gesicht.

Dascha“ Varfolomeev ist zwar nur zum Teil ein turnerisches Eigengewächs, d.h. sie kam 2019 als 13-Jährige ohne Deutschkenntnisse aus Sibirien nach Fellbach-Schmiden in das Internat des Bundesstützpunktes und scheint in ihrer Trainerin Yulija Raskina (vormals selbst erfolgreiche Gymnastin) eine geniale Meistermacherin gefunden zu haben. 2022 war ihr WM-Sieg mit den Keulen das erste Gold für Deutschland nach 1975 durch Carmen Rischer. In Los Angeles 1984 wo die RSG erstmals mit einem Mehrkampf vertreten war, konnte Regina Weber Bronze gewinnen. Erst seit den Spielen von Atlanta 1996 ist auch der Gruppenwettkampf olympische Disziplin. Ich persönlich mag die Gerätevielfalt mit den unzähligen choreographischen Möglichkeiten mit stets wechselnden Linienbildern und Würfen zwischen den Gymnastinnen sehr.

Zwischen den Mehrkampf-Einzeln und dem Gruppen-Wettbewerb treffe ich hinter den Kulissen mit Magdalena Brzeska zusammen, die heute Stützpunkttrainerin in Ulm ist. Auch ihre Karriere begann 1990 beim TSV Schmiden. Die heute 46-Jährige ist Ex-Olympionikin (10. im Mehrkampf 1996 Atlanta) und auch erfolgreich bei TV-Shows wie „Let’s Dance“ und „Stars auf Eis“ unterwegs.

Schnell sind wir uns einig, daß es da immer noch das ewige Preisrichterproblem gibt. Trotz aller Regeln, kann sich eben niemand (mehr oder weniger) frei vom subjektiven Empfinden machen. Grundsätzlich erfolgt die Punktevergabe in der RSG in drei Kategorien: Körperfähigkeit, Gerätfähigkeit und Interpretation, auch als D-A-E-Werte bezeichnet. Auch für Brzeska ging der Mehrkampfsieg von Kosolov an diesem Tag – wenn auch knapp mit 0,3 Punkten Vorsprung – in Ordnung. Als ich sie auf den unglücklichen Reifenverlust von Varfolomeev anspreche, der den Mehrkampftitel kostete, meint sie: „Naja, bei allem Potential muß man halt hinschauen, wohin man wirft“. Varfolomeev hatte den Reifen bei einem Element so hoch geworfen, daß er von einem tiefer gelegenen Rohr an der Decke abprallte, vorschnell zu Boden kam und nicht mehr gefangen werden konnte. Trotzdem bescheinigt Insiderin Brzeska Varfolomeev auch vom Typus her bessere Chancen bei den Punktrichtern, wenn es um internationale Medaillen geht. Ob die beiden Artistinnen beim Weltcup Mitte Juni in Mailand starten werden, ist noch offen; es wäre eine weitere Generalprobe. Sich dort in Topform zu zeigen und gegen die Konkurrenz zu behaupten, wäre ein wichtiges Signal. Aber vielleicht liegt gerade vor Olympia in der Ruhe die Kraft; am Siegeswillen fehlt es nicht.

 

 

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