Es gibt Schauspieler und es gibt BEN BECKER. Seine Meisterrolle ist ohne Frage „Ich, Judas“, also die Verteidigungsrede des Apostel Judas Is(k)chariot, der Jesus (angeblich) verriet. Das ursprünglich nur für eine einmalige Aufführung geplante 90-Minuten-Programm erfährt seit der Premiere im November 2015 einen unglaublichen Zuspruch bei Publikum und Fachwelt. Seine tiefe, sonore Stimme zieht jeden sofort in den Bann, die Zuschauer hängen geradezu an seinen Lippen und sind erfüllt von der Emotionalität seiner Interpretation.
Becker als Judas ist großes Kino bzw. große Schauspielkunst. Es wäre zu einfach, dies allein darauf zurückzuführen, daß er aus einer Schauspieler- und Künstlerfamilie stammt. Seine Eltern sind Monika Hansen und Rolf Becker. Er ist der Stiefsohn von Otto Sander, dem er – mit Verlaub – wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Auch seine Schwester Meret Becker ist eine bekannte Schauspielerin und Künstlerin. Seine Großmutter mütterlicherseits war die Komikerin Claire Schlichting. Bereits im Herbst 2011 erschien Ben Beckers Biographie mit dem Titel „Na und, ich tanze“; offensichtlich eine Referenz an seinen Großvater, der Tänzer war.

Geboren am 19.12.1964 in Bremen ist er nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Synchronsprecher und Rocksänger unterwegs. Alle diese Rollen füllt er grandios und auf seine ganz eigene Art und Weise aus. Seinen Durchbruch hatte er 1995 in J. Vilsmaiers Romanverfilmung „Schlafes Bruder„. Bislang spielte er in rund 90 Film- und Fernsehproduktionen und wirkte in etlichen Theaterinszenierungen mit. Neben seinen diversen Bühnenengagements schrieb er mit „Sid & Nancy“ auch ein eigenes Theaterstück. Seine Eltern trennten sich, als er zehn Jahre alt war. Er wuchs bei seiner Mutter und seinem Stiefvater in Hamburg, Stuttgart und Berlin auf. Becker hat mit seiner Ehefrau Anne Seidl eine Tochter Lilith (* 2000) und lebt in Berlin. Allerdings leben beide von Anfang an bewußt in zwei Haushalten. ER, der Raucher und Nachtschwärmer, der auch mal auf der Überholspur lebt, in der Stadt. Ehefrau Anne und Tochter etwas entfernt auf dem Land. Offensichtlich (s)ein Rezept zum Glücklichsein.

Verräterischer Judas Kuss



Ein Glaubensstreit wird zum Inbegriff der Geschichte
„Einer unter Euch wird mich verraten“. Judas, sein Name steht für Verrat und ist bis heute ein geflügeltes Wort. Seine Geschichte ist die der Schuld ohne Vergebung. Für ihn gibt es keine Gnade, er ist der Gehasste, Verfolgte und Verteufelte: Judas, der Jünger Jesu, der Gottes Sohn mit seinem Kuss verrät und ans Kreuz liefert. Ben Becker übernimmt seine Rolle und geht darin auf.
Sinngemäß heißt es dazu in der Bibel, dass Judas Jesus an die Hohen Priester verriet, die diesen als unbequemen Mahner los werden wollten. Da sie nicht wussten wie Jesus aussah und wo sie ihn finden konnten, boten sie Judas ein Geschäft an. Sie gaben ihm 30 Silberlinge und dafür sollte er sie zu Jesus führen. Der Verrat erfolgt per Kuss im Garten Gethzemané: „Nehmt denjenigen fest, den ich küsse“. Später bereute Judas seine Tat und gab seinen Verräterlohn zurück. Über sein Ende gibt es widersprüchliche Aussagen: einmal erhängt er sich, einmal bricht sein Leib auf.
Bei den Erläuterungen zur DVD heißt es zum Text von Amos Oz und Walter Jens: „Judas ist für uns zum Inbegriff des Verräters geworden … Und doch: Judas hat uns noch etwas zu sagen. Jens hat dem vermeintlichen Verräter eine überraschende, wortgewaltige Verteidigungsrede gewidmet. „Der Judas Becker“ tritt auf und spricht höchstpersönlich zum Publikum. Er erklärt uns eindringlich, dass er im Einvernehmen mit Jesus gehandelt und eine ihm zugeteilte Rolle auf sich genommen hat. Ist es nicht gerade ihm zu verdanken, dass sich der göttliche Plan erfüllte? Sind Jesus, der Erlöser, und Judas, der Verräter, nicht untrennbar miteinander verbunden? Steht es uns zu, Judas zu verurteilen? …“
Oz, Jens (verst. 2013, Literaturhistoriker, Schriftsteller und Rhetorik-Professor) und Becker rollen den Fall Judas quasi neu auf. War das Urteil gerecht? „Was wurde denn zu verraten“, fragt Judas in seiner Verteidigungsrede, „ Jesus‘ Aufenthaltsort? Den kannten Tausende. Sein großes Geheimnis, dass er Gottes Sohn sei? Das hat er selbst gesagt, vor allen Leuten!“ Das Bild von Judas, dem Verräter, ist ein Vorurteil mit fatalen Folgen, wie Antisemitismus, Judenverfolgung und Glaubenskriegen. „Judas ist nichts ohne Jesus … aber Jesus ist auch nichts ohne Judas“, so die radikale Erkenntnis von Walter Jens, der in seinem Judas-Monolog die moralischen Gewissheiten jahrtausenderlanger Frömmigkeit erschüttert. Ein mentaler Marathon, eine wahre Herausforderung für einen Schauspieler: „Hier steht einer auf in einem verzweifelten Kampf um nachträgliche Gerechtigkeit. ICH, JUDAS, als das Plädoyer für einen Verdammten … und der Widerruf eines Glaubensirrtums, der die Welt gespalten hat.“
Der israelische Schriftsteller Amos Oz sieht in dem Verräter von Jesu einen Überzeugungstäter: „Jeden Nagel habe ich in sein Fleisch getrieben. Ich habe ihn ermordet.“ Becker liest bzw. sagt das so, dass alle Qual bis zum Selbstmord des Judas für den Zuschauer spürbar wird. Judas ist für Becker nach eigenen Aussagen mehr als eine Rolle, es ist ein Schlacht- und Kraftfeld, aufgeladen mit Verachtung und Feindseligkeit von Jahrtausenden.“ Mal stürmt er vorwärts, hält abrupt inne. Ballt die Faust, hebt anklagend und verzweifelt die Arme oder sinkt mit gequälter Miene vor dem Kreuz erschöpft nieder. Mal wendet er sich vom Publikum ab, flieht in die Einsamkeit. Mal klagt er lautstark und gestenreich an, richtet den Blick fokussiert in die Gesichter des Publikums. Untermalt wird die Szenerie hie und da von wuchtigen Orgelklängen.
Becker wird zum Inbegriff des Judas
Der Grimme-Preis-Träger sucht mit seiner Interpretation des Judas nicht nur den Widerstand gegenüber Feindbildern, Vorverurteilungen und falschen Gewissheiten zu brechen. Er spielt „seinen Judas“ genau dort, wo die Fragen des Glaubens, der Erlösung und Verdammnis ihren Ort haben, nämlich in Gotteshäusern.


Fast alle bisherigen Veranstaltungen waren restlos ausverkauft: Aufgrund des überwältigenden Erfolges gibt es vieler Orts Zusatztermine von dem Solo-Akt.
Aber, wo viel Licht ist, ist auch mal Schatten. Obwohl Becker auch so herzlich lachen kann, schaut er oft entrückt in die Ferne oder gar grimmig drein und das Temperament geht mit ihm durch. So wie bei seinem Angriff auf einen Fotographen 2017, der ihm einen Strafbefehl bzw. eine Geldstrafe von 3.000 Euro einbrachte. Sein späterer Kommentar: „Es war das Dümmste, was ich je machen konnte“.
Kaum zu glauben, daß der Bühnen-Allrounder auch Auftrittsnervosität kennt. Im April 215 hatte er „seine süße Lilith“ zur Jugendfeier in den Friedrichstadt-Palast begleitet und vor der Jugend, den Familien und Freunden eine Festrede gehalten. Nach eigenen Aussagen habe er bis 5 Uhr früh daran geschrieben und hätte im entscheidenden Moment am liebsten die Flucht ergriffen. Für mich kein Selbstzweifel, sondern ein eher menschlicher Zug in einer sehr persönlichen familiären Situation. Seine eigene Weltanschauung ist indes schwer zu fassen. Wie seine Stückauswahl zeigt, beschäftigen ihn Religion und existenzielle Themen jedoch durchweg seit Jahren. „Mit Jugendweihe habe er eigentlich nichts am Hut, das sei DDR-Vergangenheit“. Seiner Tochter wolle er nicht nur Vater, sondern vor allem ein guter Freund sein und sie, wann immer möglich, unterstützen. „Sie soll machen, was sie möchte„, betont er seit Jahren. Für ihn wäre es durchaus okay, wenn sie weder Schauspielerin, noch Medienschaffende werden will. Das letzte Wort mag diesbezüglich noch nicht gesprochen sein, jedoch tritt das Vater-Tochter-Gespann gut gelaunt und selbstbewußt immer mal im TV auf, wie z.B. beim TV-Quizduell unter dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ oder Mitte Oktober 2024 bei einer Riverboat Talkrunde des MDR. Und als am 1. November 2024 die Premiere von Ben Beckers neuer Literaturperformance „Todesduell“ im Berliner Dom stattfindet, ist Tochter Lilith als Cello spielender Engel an seiner Seite. Die beiden sind inzwischen also nicht nur Vater und Tochter, sondern gleichzeitig auch Bühnenkollegen.
Bei Lillith also keine Spur mehr von ihrem seinerzeitigen Wunsch, lieber einen Vater mit Bürojob zu haben. Vielleicht wechselt sie mit ihrem kreativem Talent ja auch mal hinter die Kamera als Regisseurin.

Ich habe ihn in Speyer in der Gedächtniskirche aus der ersten Reihe erlebt – Gänsehautfeeling pur. Seine Interpretation regt in der Tat dazu an, das Judas Bild zu überdenken. Rund 1.000 Zuschauer in dem ausverkauften Gotteshaus honorieren seine tiefgreifende, beeindrucke Darstellung am Rednerpult und an einer Art Abendmahltisch vor dem Altarraum mit tosendem Applaus und stehenden Ovationen. Alles endet mit einem gellenden endlosen „Neeiiinnn …, ich habe Dich nicht verraten“. Becker trägt bei seinen Judas-Auftritten stets Weiß, die Farbe der Unschuld. Und ganz am Ende kommt es dann doch noch – sein Strahlen. Schließlich ist Applaus Balsam für jede Künstlerseele und es braucht einen Moment, um von der tragischen Figur wieder zu Ben Becker zu werden.
Becker brilliert facettenreich in den verschiedensten Rollen, aber die Rolle des Judas Ischariot bzw. seine Verteidigungsrede ist ihm auf den Leib geschrieben. Wie gesagt: Text und Intension stammen von Amos Oz und Walter Jens. „Den Dom, den Papst, die Kirchen. Fast scheint es, daß es die ganze Überlieferung nicht gäbe, hätte es nicht Judas, „den Überlieferer“ Jesu gegeben“, so die Logik des evangelischen Christen Walter Jens. „Judas ist ohne Jesus nichts“, deklamiert Becker, und: „Ohne Judas ist Jesus nichts“. Ohne Kreuzestod „gäbe es die Überlieferung nicht, dass wir erlöst sind“. Judas hat einen göttlichen Auftrag erfüllt.
Gibt man das Stichwort „Ich, Judas“ ein, findet man im Internet viele eindrückliche Youtube-Videos, um sich ein Bild zu machen. Auch auf seiner Website kann man in das Stück hineinhören. Während der Vorstellung sind Mitschnitte untersagt.


Veranstaltungstipps
Noch besser als sich Videoausschnitte anzusehen, ist es, sich bei Gelegenheit eine Karte für das Live-Erlebnis zu sichern. 2026 geht Becker mit dem Stück auf Jubiläums-Tour; über 250.000 Zuschauer haben ihn bisher in diesem Solo-Drama bereits erlebt. Die Ticketpreise liegen weiterhin um die 35.- bis 50.- Euro, je nach Veranstaltungsstätte.
Aber letztlich ist jeder Abend mit ihm ein Erlebnis, egal, ob er als Punksänger auftritt oder Texte von Kafka oder Josef Roth liest. Ich erinnere mich besonders gerne an seinen Auftritt als Robert Biberti bei den Comedian Harmonists, wofür er die Goldene Kamera erhielt. Am 01.11.24 feierte sein neues Stück „Todesduell„ in Berlin Premiere, das auch 2026 läuft. Auch hier arbeitet er eine eher dunkle Seite der Geschichte auf.
Von Februar bis April 2026 ist er mit „Ich, Judas“ erneut im norddeutschen Raum, Berlin, Dresden und Erfurt sowie dem Ruhrgebiet unterwegs; dabei am 13. und 14. März auch in St. Michaelis, dem Hamburger Michel.
Nein, Ben Becker ist kein Judas, kein Verleugner seiner selbst. Anders sein als andere, offen ungezähmt – einfach Ben Becker .
