Designerkleidchen, Gucci-Täschchen; junge Damen in Stilettos klackern über den Bürgersteig. Junge Männer in engen Anzügen, die Haare gelackt wie die Schuhe, die sie tragen. Die Elite feiert pompös. Genauer gesagt unsere Elite von morgen, denn eine Privatschule aus Blankenese feiert Abiball im renommierten Hotel Atlantic Kempinski Hamburg. Aus den geschichtsträchtigen Sälen schallt Party-Musik auf die Straße. Eltern, Lehrer und die frisch Prämierten stoßen an. Glück und Freude strahlt aus ihren Gesichtern. Im weißen Schloss an der Alster ist die Stimmung ausgelassen.

Keine 10 Minuten Fußweg entfernt stinkt es zum Himmel. Der beißende Gestank von stehendem Urin nimmt mir den Atem schon beim Vorbeilaufen. Rechts und links von mir Menschen, die hier ihr Lager aufgeschlagen haben. Es sind viele, jedenfalls deutlich mehr als vor 3 Jahren, als ich hier zum letzten Mal war. Das Leben auf der Straße hat sich in ihre Gesichter geschrieben, der Staub und Schmutz in ihre Kleidung. Ob sie sich dieses Leben ausgesucht haben? Ich traue mich nicht, zu fragen.

Ortswechsel: Auf dem Weg zur Reeperbahn begrüßt Martin die Fahrgäste in der S-Bahn. Freundlich stellt er sich den Mitfahrenden vor, bittet um eine kleine Gabe für etwas zu Essen und zu Trinken und wünscht allen einen schönen Tag.

Auf der sündigen Meile ist abends gegen 18.00 Uhr Morgengrauen. Wenig los außer Kieztourismus. Prostituierte, die zur Arbeit gehen, ein paar Männer, die sich und ihre heißen PS-Bomber zur Schau stellen und ordentlich aufheulen lassen. Kultbodyguard Eddy Kante, der mit einer Touri-Gruppe an mir vorbeiläuft.

Da sitze ich nun, vielleicht 100 Meter von der Davidwache entfernt und beobachte das vorabendliche Treiben. Kaue an den Gegensätzen, die mir die schöne Stadt an der Elbe gerade bietet.

Mein eigentliches Ziel an diesem Abend ist das nur wenige Gehminuten entfernte Operettenhaus. Die günstigsten Tickets für das Tina Turner Musical fangen für die Abendvorstellung bei etwas über 90 EUR pro Person an und das Haus wird fast voll. Starke Stimmen liefern eine fulminante Show über eine Frau mit unbändigem Lebenswillen und dem unglaublichen Mut, Grenzen von Alter, Geschlecht und Hautfarbe einfach wegzusprengen. Nicht nur die Geschichte reißt mit, auch die Stimmen und die einfühlsame Darstellung. Mein Wochenende in Hamburg hat was von Gegensätzen.

Auf dem Weg zurück zur S-Bahn begegnen sie mir wieder, denn mittlerweile laufen die Geschäfte auf vollen Touren. Gegenüber der Davidwache säumen nun junge Frauen die Straße und warten auf Freier. Und wieder frage ich mich, ob sie sich das so ausgesucht haben. Vielleicht im „normalen“ Leben studieren, die Reeperbahn ein Nebenjob für sie ist oder ein anderer Lebensstrudel sie hierher gerissen hat. Ich traue mich nicht, zu fragen.

Was würde ich tun, wenn meine Tochter dort stehen würde? Ich habe keine Ahnung.

Gegen Mitternacht ist auch Martin wieder in der S-Bahn. Sein Spruch und sein Gesicht haben sich mir eingeprägt. So wie der Geruch vor dem Bahnhof, das Bild von Menschen, die auf der Straße leben.

600 Meter weiter tauche ich zurück in die andere Welt, genieße die Freundlichkeit, die mir als Gast entgegenschlägt. Die Bar vom Atlantic ist noch voll, die Stimmung sehr heiter. Etwas staunen lassen mich die vielen Männer in kurzen Hosen und Flip-Flops. >Mann< geht heute unprätentiös.

Als ich in der Bahn nach Frankfurt sitze habe ich viel zu denken. Über arm und reich und über die grassen Gegensätze, die wie im Zeitraffer über mich hereingestürzt sind. Über die viel beschriebene Schere, die auseinandergeht. Tatsächlich tut sie das und Hamburg zeigt deutlich wie nah diese Welten beieinander liegen und wie weit sie gleichzeitig voneinander entfernt sind. An keinem anderen Ort in Deutschland ist es mir je zuvor so entgegengeschlagen. Mir tut das weh. Und mir tut ebenso weh, dass ein als reich geltendes Land wie das unsere, es scheinbar nicht schafft, genug Anreiz und Möglichkeit anzubieten, Menschen zur normalen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu motivieren. Arbeit gibt es, wenn man arbeiten will. Nicht nur in Traumjobs, aber die sind anderenorts auch gezählt. Programme und Angebote unseres Sozialstaates sind reichlich vorhanden, wenn man sie nutzen will. Sind wir zu sozial geworden? Oder welche Gründe treiben Menschen in ein Leben auf der Straße? Und nein, ich sitze nicht in meiner Wohlstandsblase und denke: schert mich doch alles nicht. Lass sie doch liegen.

Im Gegenteil: mich erschüttert das. Und noch mehr, dass diese Entwicklung so wenig hinterfragt wird. Weil wir diesen Sozialstaat am Ende des Tages finanzieren müssen und weil es um Menschen geht. Auch gerne geben, wenn es angebracht ist. Aber nicht Millionen für Programme aus dem Fenster werfen sollten, die nicht angenommen werden und nicht ankommen. Denn: wir brauchen die Gelder dringend für große Aufgaben. Umwelt und Demografie sind zwei davon.

Es ist nicht Gleis 9 ¾, sondern sehr offensichtlich, dass sich immer mehr Menschen gewollt oder ungewollt abkoppeln. Man muss nur mit offenen Augen unterwegs sein.

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