Endlich sind viele Kultureinrichtungen wieder geöffnet, Theater und Opernhäuser bringen wieder umfangreicher besetzte Stücke heraus und trotzen damit mutig allen Eventualitäten die da kommen mögen. Mit vollem Engagement und viel Energie werden neue Produktionen inszeniert, obwohl man längst weiß, daß 3G keine Garantie für die Überwindung der Corona-Krise ist – aber vielleicht auch gerade deshalb. Es tut sich wieder etwas; „Life live“, ein Stück bekannte Normalität scheint zurück.

Was für ein Privileg aktuell bei den Vorbereitungen eines Stückes hautnah dabei zu sein. Konkret, die Endfassung bzw. den Feinschliff zur Operette „BALL IM SAVOY“ im STAATSTHEATER DARMSTADT zu erleben.

Das Mehrspartenhaus beschäftigt über 500 Mitarbeiter vor oder hinter den Kulissen, d.h. es vereint Musiktheater, Schauspiel, Ballett und Konzerte sowie die Abteilung „Junges Publikum“ unter einem Dach. Das aktuelle Spielzeit-Motto 2021/ 2022 lautet sehr treffend „Was fehlt“. Die Bühne als wichtiges, gleichberechtigtes Lebenselixir für Künstler und Publikum.

Auf den Spielplänen der meisten Häuser scheint derzeit eher „schwere Kost“ zu stehen – in schweren Zeiten. Da war es der Regisseurin Andrea Schwalbach bei der Auswahl dieser leichten Muse ganz offensichtlich ein Bedürfnis, auch einen Kontrapunkt zu setzen, ohne dabei unsensibel mit der aktuellen Lage umzugehen. Zumal auch Ende der 20-iger, Anfang der 30-iger Jahre zum Ende der Weimarer Republik die gesellschaftliche Situation angespannt war. Man befand sich im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise und erlebte die Jahre als „Tanz auf dem Vulkan“. „Ball im Savoy“ (von Abraham/ Löhner-Beda/ Grünwald) ist aber auch ein aktueller Beitrag des Hauses zu „100 Tage 1700 Jahre: Jüdisches Leben in Darmstadt“ und somit ein weiterer Auswahlgrund.

Die Story der Verwechslungskomödie ist schnell erzählt. Sie beschäftigt sich mit den üblichen Liebeleien zwischen Mann und Frau und zeigt alle Facetten von Leidenschaft, Lust und Selbstbewußtsein bis hin zu Eifersucht, Untreue und vermeintlichem Eheglück. Seinen Anfang nimmt das Geschehen – man mag es kaum glauben – mit einer einjährigen Hochzeitsreise der beiden Protagonisten, die in Venedig beginnt und in Nizza endet. Alles mit Witz und Esprit in pfiffigen Dialogen, bei beschwingter Musik und schwungvollen Tanzeinlagen hübsch verpackt. Wie könnte es anders sein, erlebte diese eher selten gespielte Operette doch 1932 in Berlin ihre Uraufführung. Ihr Verfasser/ Komponist war kein geringerer als Paul Abraham (Blume von Hawaii, Victoria und ihr Husar), der seinerzeit – bis zur Absetzung durch das NS-Regime – gemeinsam mit einem anderen Paul – Paul Linke – als Operettenkönig von Berlin gefeiert wurde. Das typisch spritzige Operetten- und Revue-Flair ist also garantiert. https://de.wikipedia.org/wiki/Ball_im_Savoy_(Operette)

Regisseurin Andrea Schwalbach geht aber noch weiter und ergänzt einige Passagen um bekannte Songs wie „Laß‘ mich dein Badewasser schlürfen“ (ursprünglich ein Lied der Comedian Harmonists) oder „Sing, sing“ von Benny Goodman, das eigentlich erst von 1950 datiert. Die integrierten Stücke harmonieren dabei so perfekt, daß es die wenigsten Zuschauer spontan bemerken werden. Das Stück ist daher mit 2 Stunden 30 Minuten etwas länger als das Original. In diesen Tagen ist – zumindest für mich – jede Minute mehr, Balsam für die Seele.

Am Künstlereingang werde ich schon erwartet. Einige Kurven und weiß getünchte Gänge weiter, hinauf mit Fahrstühlen, die man nur per Schlüssel bedienen kann, betrete ich schließlich den großen Theatersaal (956 Plätze). Anders als erwartet, nun ganz still in einer halbdunklen Ecke zu sitzen, herrscht auf den Rängen und der Bühne reger Betrieb. Mindestens 50 Personen fachsimpeln untereinander vor ihren Monitoren, Licht-/ Lautstärkereglern, Regiebüchern und sonstigen Skripten – ohne Frage ein eingespieltes Team.

Gleich soll die erste gemeinsame Hauptprobe starten, genauer gesagt die Klavierhauptprobe: D.h. komplettes Bühnenbild, Beleuchtung, alle Darsteller in voller Maske und Garderobe, musikalisch aber „nur“ begleitet von einem Pianisten, also ohne Orchester. Das tut der Sache absolut keinen Abbruch, denn so hört man jeden Ton, jeden Tritt und jedes Atmen noch viel deutlicher. Wann hat man schon mal Gelegenheit, ein Stück so präsentiert zu bekommen.

Ich nehme also meinen Logenplatz auf rotem Samt in Reihe 14 ein, ganz in unmittelbarer Nähe des Regiepultes. Die Bestuhlung ist äußerst bequem und der Reihenabstand entsprechend großzügig. Vorhang auf, sich zurücklehnen und genießen. Sich vom Alltag in eine andere Welt, die Glamourwelt vergangener Zeiten entführen zu lassen. Als Gegenentwurf zur Flucht in digitale Zukunftswelten? Wie auch immer. Schwalbach hat die Inszenierung nicht – wie man es häufiger antrifft – zu Tode aktualisiert, sondern in der Szenerie der „Roaring Twenties“ belassen. Das besagte Hotel der Luxusklasse an der Promenade des Anglais in Nizza gibt es übrigens bis heute.

Schon die erste Gondel-Szene ist ein Hingucker mit einer unerwarteten Folge an Gags und liebenswerten Details. Da krächzen Delphine und das Gepäck wird aus Platzmangel auf einem Rettungsring hinterhergezogen – samt Butler. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

Aus eigener choreografischer und schauspielerischer Erfahrung weiß ich, daß vieles für den Zuschauer immer so selbstverständlich wirkt. Das soll es auch, aber da muß man erst einmal darauf kommen. In Wirklichkeit ist es ein ewiger Schaffensprozeß, der angesichts des Strebens nach Optimierung bei aller Kreativität und Erfahrung, vom ersten Moment an zugleich Selbstzweifeln unterliegt.

Dialoge wechseln sich mit Arien ab und die Tanzeinlagen sind ohnehin ganz mein Geschmack. Da werden zu jazzigen Foxtrott-Rhythmen Handtücher geschwungen und so manches Bananenröckchen-Trikot erinnert an die Hüften schwingende Josephine Baker. Und wie heißt es in der „Csárdasfürstin“ von Emmerich Kalman, dem Operettenkönig von Wien, so schön: „Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht“. Heute würde man sagen „Sex(y) sells“. Für die damalige Zeit alles geradezu revolutionär mit einem Hauch Exotik.

Das Szenen-Karussel dreht sich weiter. Die beiden Hauptdarstellerinnen „Madeleine de Faublas“ (hier Jana Baumeister) und „Daisy“ (Cathrin Lange) schwelgen auf zwei herab hängenden Silbermonden im harmonischen Duett in Erinnerungen. Und die Herren? Nun ja, Texte wie „Lieber sechs Frauen einmal treu, als ein und derselben Frau sechsmal (so die Rolle des türkischen Diplomaten Mustapha Bey), sprechen für sich. Insgesamt ein farbenfrohes Spektakel, daß mit fortschreitender Dauer immer noch eins daraufsetzt. So wird beispielsweise die Chanson-Szene „Toujour l’amour“ von „menschlichen Blüten“ untermalt und die feurige „La Tangolita trägt bei ihrem Treppenauftritt ein atemberaubendes Goldpailettenkostüm mit einer „bata de cola“, einer schwarzen Rüschenschleppe. Getoppt wird dieses Outfit allerdings noch vom silbern glitzernden Fransen-Ballkleid der „Daisy“.

Auch konditionell bedeutet so ein Stück für die Darsteller – bei aller Routine – körperliche Höchstleistung. Stets gilt es mit Elan und Emotion über die Bretter zu tanzen, zu singen, und zu gestikulieren und dabei jede Position im Auge zu behalten. Vor allem den sich fast ständig, mal schneller und mal langsamer, rotierenden Drehbühneneinsatz zu beachten, der das Bühnenbild nahtlos verändert. Da gerät man wie ein Sportler schon mal außer Atem, natürlich ohne es sich anmerken zu lassen. Nicht zu unterschätzen sind übrigens auch häufige eilige Kostümwechsel. Diese ohne helfende Hände hinter der Bühne in wenigen Minuten oder gar nur Sekunden zu vollziehen, ist für die Darsteller oft Nerven zerrend.

Schwupps, alles auf Anfang … da ist doch glatt jemand auf der falschen Seite der Bühne abgegangen oder wo bleibt in der Szene der Butler? Der hat gerade seine passenden Schuhe nicht parat und kommt nach Aufforderung der Regie nun in Socken daher. Was so alles passiert. Hier wird es geprobt und es gibt die Möglichkeit der Wiederholung. Bei einer Aufführung müssen solche Situationen möglichst gekonnt überspielt, sprich improvisiert werden – „The show must go on“.

Wie das alles am besten zu bewältigen ist, darüber gibt es auch mal einen kurzen Disput. D.h. einen Wortwechsel darüber, wer, was jetzt oder später für die Zukunft geklärt haben möchte. Alles menschlich, denn jeder bzw. jede Abteilung möchte seine Arbeit am Werk gewürdigt wissen. Einige Künstler nutzen die Unterbrechung aber auch gerne, um sich untereinander noch präziser abzustimmen oder hinsichtlich Takt und Einsatz mit dem Dirigenten/ Pianisten ggf. noch individuelle Absprachen zu treffen. Häufig wird am Set auch Englisch gesprochen, denn es arbeiten viele Nationen am Haus.

Wem das jetzt alles zu schnell ging, zu bruchstückhaft war und inhaltlich nicht schlüssig oder sprunghaft erscheint, der hat Recht. Denn erfassen kann man so ein Gesamtkunstwerk nur durch persönliches Erleben aus eigenem Blickwinkel und mit allen Sinnen. Alles in allem geht mein persönlicher „Oscar“ für die beste Nebenrolle an Butler Archibald (Dirk Weiler). Seine kleinen Gesten und genialen Steppeinlagen sind weit mehr als Pausenfüller oder „Szenenüberbrücker“. Er hält das Stück mit seinem kabarettistischen Talent als eine Art Mittler zwischen Bühne und Publikum stets mit einem Augenzwinkern zusammen.

Ich könnte ewig da sitzen und stelle mir das ganze gerade komplett mit großen Orchester vor: Savoy-Walzer, Niagara-Fox, Kängeruh-Step, Paso Doble und vor allem mein Lieblingstitel „Es ist so schön am Abend bummeln zu gehen“ … ach ja. Ich schwinge förmlich hinaus und freue mich schon auf das nächste Mal. Premiere war am 05.11, weitere Vorstellungen folgen am 18./ 19.11. bzw. die ganze Spielzeit hindurch bis in das Frühjahr hinein. https://www.staatstheater-darmstadt.de/veranstaltungen/ball-im-savoy.763/

Oder jetzt schon einen Platz für die Silvestervorstellung sichern? Die Ticketpreise liegen auch dann sehr moderat zwischen 15.- und 70.- EURO. Träger des Staatstheaters ist das Land Hessen, denn neben den Personal- und üblichen Bewirtschaftungs-/ Verwaltungskosten steht heute hinter jeglichem Equipment diverse kostenintensive Technik. Nur Dank Bezuschussung ist so die Existenz eines Theaters und der Zugang für Jedermann gesichert. Anderenfalls rangieren die Preise stattdessen schnell zwischen 90.- und 200.- EURO pro Person. Wie viel Aufwand bzw. wie viele Arbeitsstunden in einer solchen Produktion stecken, vermag angesichts der unzähligen Einzelproben der Künstler (inkl. Textstudium) und den parallel dazu auch für andere Aufführungen tätigen Mitarbeitern der Abteilungen Bühnenbild, Technik, Kostümwesen, etc. niemand zu sagen. 

Das Staatstheater offeriert zudem viele Extras, die es zu entdecken gilt. Zum Beispiel den vielfältigen Blick hinter die Kulissen wie Backstage-Führungen, Mitmach-Projekte, Workshops, Proben- oder spezielle Kinderevents. Wer nichts verpassen möchte, abonniert einfach den Newsletter und ist so immer mittendrin.

Ich jedenfalls wünsche dem Stück und allen Beteiligten Toi, Toi Toi. Muß ja gut gehen, denn bei der Probe haben sich alle streng an den alten Theateraberglauben gehalten, nicht zu applaudieren.

Anmerkung/ Kooperation:  Mein Dank gilt Frau J. Kissel für Ihre Unterstützung bzw. Besuchsorganisation und Nutzungsfreigabe des Fotomaterials von J. Quast.

 

 

P.S.  Auch die Stadt Darmstadt selbst hat m.E. einiges zu bieten, sie steht nur immer etwas im Schatten von Frankfurt und den Rhein-Main Metropolen Mainz und Wiesbaden. Die „Wissenschaftsstadt“  ist z.B. Sitz der ESA (auch beim Europäischen Raumfahrtzentrum sind Führungen möglich), war einst Zentrum des Jugendstils (Mathilden-Höhe), verfügt über Universitätseinrichtungen sowie diverse Museen, und punktet neben der „Grube Messel“ (Welterbe Fossilien-Stätte) mit attraktiven Naherholungsgebieten.

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