Obwohl sich die Ukrainisch-orthodoxe Kirche UOK 1990 bzw. 2018 vom Moskauer Patriachat löste, wirft die ukrainische Regierung ihr immer noch eine zu große Nähe zu Rußland vor. In der Konsequenz etablierte man 2022 nach der russischen Invasion neben der bisherigen UOK eine zweite Ukrainisch-orthodoxe Kirche (UKO).  Seit Augst 2024 gibt es gar ein Gesetz, das die Russisch-orthodoxe Kirche in der Ukraine verbietet, obwohl der russisch-stämmige Teil der Bevölkerung in der Ukraine historisch bedingt immer noch recht hoch ist. Um den Abstand inhaltlich nun deutlich zu dokumentieren, will die neu gebildete Orthodoxe Kirche der Ukraine künftig gar mit den Weihnachtstraditionen brechen und Weihnachten nicht mehr am 06./07. Januar gemäß Julianischem Kalender feiern, sondern nach dem Gregorianischen Kalender am 25.12. Ein doch eher verwunderlicher Schritt, wirft man Jahrhunderte lange Traditionen nicht einfach über Bord und löscht sie auch nicht aus den Köpfen der Gläubigen eines Landes. Für mich klingt das eher nach Verzweiflungstat sich von der Vergangenheit abzugrenzen, die letztlich nicht Russen und Ukrainer trennt, sondern vor allem die ukrainische Gesellschaft spaltet. 

Wegen gegenseitiger Spionagevorwürfe würde Präsident Selenskyj die ursprüngliche UOK am liebsten ganz verbieten, was laut Experten mit der Verfassung der Ukraine jedoch nicht ohne weiteres vereinbar ist.
Grund war u.a., daß die UOK ihre Weihnachtsbotschaft für die Gläubigen sinngemäß wie folgt formulierte: Wir beten, dass Gott die Menschen bzw. unseren Präsidenten und die Abgeordneten verstehen lässt, dass sie den Krieg mit einem Abkommen am Verhandlungstisch beenden sollen. Für Selenskyi Hochverrat. 
Wie denken die Gläubigen darüber?
Dass ich am späten Nachmittag des 06.01. zur Liturgie bzw. zur Nachtwache der Geburt des Herrn in die Hamburger Prokopij-Kirche gehe, hat sich aus der Situation heraus ergeben. Zum einen, weil ich nicht allzu weit entfernt wohne, zum anderen, weil sich hier offensichtlich weiterhin „beide Konfessionen“ und „Nationalitäten“ zum Gottesdienst treffen. Schließlich war ihr Namensgeber, der „Selige Prokop von Lübeck und Ustjug“, schon seinerzeit ein Mittler zwischen Osten und Westen.
Bereits 1902 gab es im vornehmen Hamburger Stadtteil Harvestehude einen russisch-orthodoxen Andachtsraum mit Kapelle, bevor 1965 die erste offizielle russisch-orthodoxe „Prokopios-Kirche“ im Stadtteil Stellingen in der Hagenbeckstraße geweiht wurde. Seit 2007 befindet sich am Tschaikowski-Platz (St. Pauli) eine zweite russisch-orthodoxe Kirche und seit kurzem auch eine ukrainisch-orthodoxe Kirche in der Bogenstraße.
Seit dem russischen Großangriff haben im Mutterland angeblich rund 800 Gemeinden die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK) verlassen und wurden Mitglied der jüngeren Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU), in der nun ausschließlich auf Ukrainisch (unterscheidet sich vom Russischen eher geringfügig wie ein Dialekt oder das Deutsche vom Niederländischen) gepredigt wird. Die bisherige UOK  ist jedoch weiterhin die größere der beiden orthodoxen Kirchen in der Ukraine.
Was unterscheidet die drei orthodoxen Kirchen Rußlands bzw. der Ukraine?

Was die beiden differenziert, scheint im Grunde die aktuelle politische Gesinnung. In jedem Fall reist die vermeintliche Neuausrichtung Familien auseinander. Einige feiern als Hinwendung zum Westen nun rigoros nur am 25.12. Weihnachten, andere als  „Kompromiß“ an beiden Tagen, weil die Nacht vom 06. auf den 7. Januar emotional weiterhin wichtig ist. Am 7. Januar stellt man nach wie vor traditionell die üblichen zwölf Weihnachtsspeisen auf den Tisch, darunter „Kutja“, ein süßer Weizenbrei mit Nüssen, Trockenfrüchten, Honig und Mohn. Das Zusammensein sei im Zweifelsfall jedoch das Wichtigste.

Laut des Meinungsforschungsinstitutes KIIS in Kiew haben christliche Kirchen indes wenig Ansehen in der ukrainischen Gesellschaft. Die orthodoxe Kirche glaubt wie die katholische Kirche an einen Gott, die Dreifaltigkeit und die sieben Sakramente, hatte sich jedoch schon im 11 Jahrhundert abgespalten und in viele weitere orthodoxe Kirchen wie die Rumänisch-, Kroatisch-, Griechisch- oder Abchasisch-Orthodoxe Kirche unterteilt. Den Trennungszeitpunkt im Mittelalter bezeichnet man auch als „morgenländisches Schisma“, der ersten großen Spaltung der Christenheit. D.h., obwohl die beiden Kirchen von der Realpräsenz Jesu Christi in Brot und Wein ausgehen, gehen Papst und Patriarch getrennte Wege. Eine Kirchensteuer kennt die orthodoxe Kirche (ca. 300 Millionen Mitglieder weltweit) bis heute übrigens nicht.

Der orthodoxe Gottesdienst besteht aus der Feier der Sakramente, einzelnen Riten und Handlungen getragen von einem zeremoniellem Gebetsgemurmel, die alle einer bestimmten Ordnung folgen. Orgelklänge, die die wenigen Gebetsgesänge begleiten sind unbekannt. Je nach Anlaß kann ein Gottesdienst recht lange bis zu drei Stunden dauern und meist verfolgt die Gemeinde den Ablauf stehend. Die wenigen Sitzgelegenheiten sind Älteren und Kranken vorbehalten. Alle Frauen tragen eine Kopfbedeckung, meist ein  Kopftuch oder eine leichte Stola über Kopf und Schultern; des weiteren einen Rock, wobei man den Jüngeren auch mal einen Minirock durchgehen läßt. Auf mich wirkt der Ablauf stets wie eine Mysterienfeier mit viel Weihrauch, Prunk und Kerzenlicht. Dabei herrscht ein permanentes Kommen und Gehen, denn jeder kann der Zeremonie beiwohnen, wann er Zeit hat. Pünktlich zu Beginn da sein muß man also nicht, man sollte aber auf seine Körperhaltung und korrekte Gestik achten. Die zahlreichen vergoldeten Ikonen in der Kirche dienen dabei nicht als Dekoration, sie symbolisieren vielmehr die Fenster zur „himmlischen Wirklichkeit“. Die Betrachtung einer Ikone soll zur Gegenwart Gottes führen. Die Gläubigen bekreuzigen sich vor ihnen drei Mal (lieber mehr, als weniger) mit drei Fingern und küssen auch häufig die Hände und Füße der dargestellten Heiligen, die meist auch Vorbildfunktionen haben. Manche der hiesigen Ikonen wie „Die Mutter von Kursk“ hat wahrlich eine abenteuerliche Geschichte und Reise hinter sich. Der eigentliche Altarraum wird nur vom Kirchenoberhaupt – meist einem sog. Archimandrit – zur eigentlichen Messe geöffnet und geschlossen.

Immer wieder ein eindrucksvolles Erleben 

Zwar sind meine Russischkenntnisse sehr begrenzt, der Anschlag an der Eingangstür ist jedoch eindeutig: Mobiltelefone müssen hier ausgeschaltet sein, es gebe schließlich nur im Gebet eine Verbindung zu Gott. Der Gottesdienst wird teils in Russisch, teils in Deutsch gehalten; manchmal auch in Altslawisch. Auch als Nicht-Mitglied einer orthodoxen Kirche ist man willkommen, so lange man den Ablauf nicht stört. Ich kenne bereits die orthodoxen Kirchen von Nizza, Kiew, Moskau, Baden-Baden und Potsdam und bin doch immer wieder beeindruckt von Farbglanz und Bildkraft respektive dem Flair dieser Gotteshäuser mit den vielen Zwiebeltürmchen. Eine mögliche Erklärung für diese besondere Bauform ist die Nähe zum Orient bzw.  islamisch geprägten Ländern, denn Moscheen werden meistens ebenfalls mit ähnlichen Kuppeln versehen. Für manche symbolisieren die teils goldenen Zweibelkuppeln brennende Kerzen.

Aus einer Ecke heraus beobachte ich schon die Vorbereitungen und frage meine Nachbarin schließlich, ob sie öfters in diese Kirche gehe. Dabei stelle ich mich mit „“меня зовут Петра“ (menya zovut Petra) vor.  „Ja“, entgegnet Tatjana, seit 31 Jahren, also seit sie in Hamburg lebe. Der Vater ihres Mannes sei deutscher Herkunft gewesen und sie habe ihn in Mitte der 50-iger Jahre in Kasachstan kennengelernt. Sie kenne fast jeden hier und ja, es seien auch Ukrainer darunter. Auf meine vorsichtige Frage nach der Trennung der beiden Kirchen und Abspaltung einer neuen Ukrainischen-orthodoxen Kirche meint sie „es sind halt die jungen Leute, für sie sei das nichts“. Natürlich habe sie die traditionellen zwölf Speisen zu Mitternacht schon vorbereitet, denn sie wohne im 20 Kilometer entfernten Wedel und müsse die S-Bahn nehmen. Sie verwende für die „Kutja“ statt Weizenbrei lieber Reis.

Erzpriester Joseph Wowniuk hat im weiß-silbernen Festgewand (zum Patronatstag im Sommer wird viel Grün-Gold getragen) inzwischen alle Anwesenden per Hausrundgang mit Weihrauch gesegnet und der „Zweite Mann“ (klassisch in schwarz gekleidet, aber mit modischem Undercut und hochgebundenem Zopf) u.a. in deutscher Sprache und mit sonor-singender  Stimme diverse Bibelverse und Gebete zitiert. Darunter auch das „Vaterunser“, das allerdings mit … „und erlöse mich von den Sünden endet“. Der Schlußsatz: „… denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen“ ist offensichtlich kein Bestandteil.  

Während andere Besucher vor den kleinen Nischen immer wieder die typisch dünnen Kerzen anzünden, verlasse ich nach eineinhalb Stunden die wohlig warme Kirche und komme vor der Tür noch mit Elena in’s Gespräch. Den  altslawischen Teil der Gottesdienste verstehe auch sie nicht, aber sie liebe – wie ich – die spirituelle Energie des Ortes. Und ganz ungefragt fügt sie hinzu, daß es doch überall gute und schlechte Menschen gebe, man deshalb doch nicht die ganze Kirche bekämpfen und in Zweifel ziehen müsse. Ich gebe ihr Recht, und traue mich die ältere Dame nicht zu fragen, wo genau sie bzw. ihre Familie ursprünglich in der Sowjetunion zu Hause war und ob sie sich in Hamburg mehr als Ukrainerin oder Russin fühle. Und überhaupt: Wer sind in diesen Zeiten die Guten und die Schlechten? Ich sehe hier eine große Grauzone, wobei einige Zeitgenossen unbedingt die Gunst der Stunde nutzen wollen, um sich über andere moralisch zu erheben – ein unguter Gedanke. Grundsätzlich stimmt mich – wie im Falle Israels – die zunehmend bewußte Vermischung von Religion und Staat als Instrumentalisierung von Machtinteressen nachdenklich.

Was mag die Zukunft bringen?

Die meisten russischen Auslandskirchen, so auch die Prokopij-Kirche bemühen sich um Ausgleich und ein Miteinander unter den Religionen. Erst kürzlich wirkte ihr Chor wieder bei einem Benefizkonzert in Hamburgs renommiertester Kirche St. Michaelis (kurz „Michel“) mit. Des weiteren werden regelmäßig offene Workshops z.B. für Chorgesang oder die Kunst des Glockenläutens angeboten. Durch meine Teilnahme am orthodoxen Gottesdienst und die kurzen Gespräche habe auch ich dieses Jahr zweimal Weihnachten gefeiert – ganz ohne aufgesetztes Pathos oder irgendwelche politischen Bekenntnisse.

Bleibt zu hoffen, daß die losgetretene Abspaltung und Trennung der beiden Kirchen innerhalb der Ukraine nicht zu ähnlichem politischen Chaos und Leid führt, wie seinerzeit 1947 nach Ende des Britischen Protektorats auf dem indischen Subkontinent, der sich aus religiösen Gründen in die Länder Bangladesh, Indien und Pakistan spaltete. Die Folge waren Vertreibung und eine unsägliche Völkerwanderung und dennoch kennt die Region bis heute keine Ruhe und Frieden.

 

Anmerkung: Fotos PFritz und der offiziellen Bild-/ Videogalerie der Prokopij-Kirche

 

 

 

 

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