Nein, dies ist kein Science Fiction und hat auch keinen unmittelbaren Bezug zur aktuellen Situation in Rußland. Im medizin-historischen Museum des UKE (Universitäts-Klinikum Eppendorf) in Hamburg ist dem Gründer der Sowjetunion (bis Januar 2026) Wladimir Iljitsch LENIN zur Zeit eine Ausstellung und eine Vortragsreihe gewidmet. Dabei spielen u.a. zwei deutsche Ärzte eine maßgebliche Rolle. Zum einen der Neurologe und Militärarzt Max Nonne, zum anderen der Berliner Hirnforscher Oskar VOGT (1926), um histologische Spuren von Lenins Genie zu finden. Vogt und seine Frau Cecile waren seinerzeit die Kapazitäten auf dem Gebiet der Hirnforschung und arbeiteten sowohl am Moskauer Hirnforschungsinstitut, als auch an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin.

Eine dezidierte Sicht auf die Dinge erläuterte im historischen Hör- und Sektionssaal des UKE am 18.06.25 der Arzt und Wissenschaftshistoriker Dr. em. Michael HAGNER.

Als Lenin 1924 in Gorki bei Moskau an den Folgen eines Schlaganfalls starb, war unter den Ärzten die von der Regierung an sein Krankenbett gerufen wurden, auch der Hamburger Neurologe Max Nonne. Seine Aufzeichnungen bzw. die Krankenakte Lenins stehen im Mittelpunkt der Ausstellung. Schon nach einem Attentat 1922, als Lenin eine Kugel im Hals operativ entfernt wurde, war es der  deutsche Arzt, der über Lenins Kopfschmerzen als Folge einer Bleivergiftung des Gehirns urteilte.

Noch im November 1918 waren – laut Analen des renommierten Eppendorfer Klinikums – deutsche Revolutionäre auf der Suche nach Max Nonne und seinen Assistenten durch das Krankenhausgelände gezogen, „um sie zu erschießen“. Denn besagter Nonne war als Verfechter eines umstrittenen Verfahrens bekannt, das die Leistungsfähigkeit psychisch erkrankter Soldaten im Ersten Weltkrieg mit Hilfe schmerzhafter Stromstöße und Hypnosetherapien wiederherzustellen versuchte.

Nonne mit seinem Pantostat

Bedeutung der Pyramidenzellen im Rahmen der Eugenik

Welches Menschenbild und Ansinnen steckt hinter der Forschung an Lenins Hirn?  Die Antwort darauf gibt Professor Michael Hagner (London, Göttingen, Berlin, ETH Zürich) unter dem Titel „Pyramidenzellen, die die Welt erschütterten„. Vorrangig ging es darum, ob sich aus der Untersuchung seines Gehirns oder anderen Eliten Strukturen erkennen ließen, die deren Genialität – sei es im positiven oder negativen Sinne – erkennen lassen.

Im Verlauf des Vortrages steht der Begriff Eugenik, also die Erbgesundheitslehre im Focus. Hagner und andere Wissenschaftler unterscheiden dabei nach sozialer, politischer und medizinischer Eugenik oder auch zwischen positiver und negativer Eugenik. Hagner ist bewußt, daß der Begriff oft ausschließlich in Verbindung mit Rassenhygiene gebraucht wird, ermahnt aber mehrfach, darin auch den reinen Forschungsansatz zu sehen. Allgemeinhin bezeichnet man unter Eugenik die Anwendung theoretischer Konzepte bzw.  Erkenntnisse der Humangenetik und deren Gen-Pool einer Population mit dem Ziel, den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen zu vergrößern (positive Eugenik) und den negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern. Als erster prägte diesen Begriff der britische Anthropologe Francis Galton (1822–1911), ihm folgten alsbald viele weitere Gelehrte in der ganzen Welt (darunter Deutschland, Österreich, Schweiz und Schweden) quasi als Gegenentwurf oder Beschleunigung des natürlichen Ausleseprozesses nach Darwin.

Wie entstand der Totenkult um Lenin?

Der Berliner Hirnforscher Oskar Vogt ließ 1926 Lenins Gehirn in Moskau in 35.000 hauchdünne Scheiben schneiden, mit Silberionen färben und auf Glas fixieren. Dabei entdeckte er im Vergleich zu anderen zuvor sezierten Gehirnen besonders zahlreiche große Pyramidenzellenund erklärte Lenin zu einem „Assoziations-Athleten“ mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten – ungeachtet auch Lenins Menschen verachtenden Energien, denen ab 1922 Hunderttausende zum Opfer fielen.

In seinem Buch „Geniale Gehirne“ (2005) beschreibt Hagner diese Episode als einen spektakulären Höhepunkt der Elitegehirnforschung und geht u.a. der Frage nach, welche politischen und wissenschaftsphilosophischen Hintergründe und Sichtweisen damit verbunden waren/ sind.

Das Pantheon der Gehirne

Seinerzeit waren es die Russen, die Ende der Zwanziger Jahre einen „Pantheon der Gehirne“ unweit des Kremls in Moskau einrichteten. Im Herbst 1927 wurde das Institut für Hirnforschung feierlich eröffnet und zunächst von dem deutschen Neuroanatomen Oskar Vogt geleitet. Es diente ursprünglich der Untersuchung von Lenins Gehirn, doch die Ambitionen reichten weiter. Es ging um die Erforschung sog. „Elitegehirne“, getreu einer Vision vom neuen kommunistischen Menschen. Insbesondere Trotzki begeisterte sich für den utopischen „Züchtungsgedanken“ eines herausragenden gesellschaftlich-biologischen Menschentypus bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethes und Marx.

Die Idee der Einrichtung eines öffentlichen Pantheons stammte von Wladimir Bechterew, der schon lange vor der Oktoberrevolution zu den renommiertesten europäischen Hirnforschern zählte. Auch er interessierte sich für die Gehirne bedeutender Männer: Bereits 1909 hatte er eine Untersuchung des Gehirns von Dimitrij Mendelejew vorgenommen, in der er dem bekannten Chemiker eine „Luxusausstattung der Hirnwindungen“ attestierte. Mithin gab es die Verbindung von Elitehirnforschung und Politik schon vor der Oktoberrevolution, doch erst mit den neuen politischen Verhältnissen standen auch Mittel und Wege bereit, diese im großen Stil umzusetzen.

Wurde Bechterew als Überbringer der schlechten Botschaft geköpft?

Das Panthéon der Gehirne sollte das Pariser Panthéon im Hinblick auf die wissenschaftliche Forschung gar übertreffen und so Sinnbild für die Überlegenheit des Sozialismus sein. Das Lenin-Mausoleum samt dem öffentlich aufgebarten, einbalsamierten Herrscher war ganz diesem Kult gewidmet. Es sollte suggerieren, dass die bolschewistischen Revolutionäre über den Tod hinaus für die Fortsetzung des Klassenkampfes nicht verloren waren, indem der kostbarste Teil ihres Körpers als öffentlicher Gegenstand weiterlebte.

Jedoch, die „Gesellschaft frisst ihre Kinder“. Bechterew verstarb 1927 nämlich überraschend unter mysteriösen Umständen. Er hielt sich zu einem Kongress in Moskau auf und wurde auf Stalins Wunsch zu einer Untersuchung in den Kreml zitiert. Bechterew diagnostizierte eine Paranoia, die er wohl unvorsichtigerweise Stalins Leibarzt mitteilte. Nur eine Woche später erlag er einer Lebensmittelvergiftung bei einem Abendessen in Moskau. Stalins Rache gipfelte darin, dass Bechterews Leichnam erst gar nicht in seine Heimatstadt Leningrad zurückreiste, sondern gleich in das Moskauer Hirnforschungsinstitut verbracht wurde.

Viele Aspekte, viele Fragen – schlüssige, aber auch offene Antworten

Bewußt nicht thematisiert wurden im Vortrag die Rollen bzw. direkten und indirekten Einflüsse von Nonne und Vogt auf die späteren offen und verdeckten Morde an psychisch Kranken und Behinderten in der NS-Zeit.

Max Nonne (1861-1959) war von 1928 bis 1924 Vorsitzender der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte und erhielt bis zuletzt zahlreiche Auszeichnungen. Auch, wenn Akten im Staatsarchiv Hamburg belegen, dass Nonne sich 1941/42 in einer Denkschrift für die Tötung „absolut unwerten Lebens“ aussprach.

Vogt war nach den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg sehr daran gelegen, die Gehirne der zum Tode verurteilten Nazigrößen untersuchen zu dürfen, was ihm jedoch verwehrt wurde. Stattdessen überließ man deren Gehirne einem Kollegen in München. Usw. Auch Cecile und Oskar Vogt wurden viele Ehren zu Teil, u.a. trägt das Hirnforschungsinstitut der Universität Düsseldorf ihre Namen.

Wie auch immer: Es darf darüber spekuliert werden, ob auch Putins Gehirn nach dessen Tod in Moskau segmentiert werden oder gar scheibchenweise um die Welt gehen wird. Mit welchem Ergebnis auch immer. Denn auch wenn die Hirnsegmentierungen gewisse Ansätze und Deutungen auf den Menschentypus zulassen mag, waren die (bisherigen?) Stichproben und Vergleichsmöglichkeiten viel zu gering, um generelle Schlüsse daraus ziehen zu können – so der Abschlußtenor von Prof. Hagner.

Wenn große Pyramidenzellen für schnelle Auffassungsgabe und überdurchschnittliches Assoziationsvermögen stehen, dann wäre m.E. das Gehirn von Schnellsprecher und Top-Modeschöpfer Karl Lagerfeld als Gegenprobe eine Analyse wert gewesen. Bevor man so etwas gegebenenfalls mit ihm anstellen würde, hatte dieser dafür gesorgt, so schnell wie möglich eingeäschert zu werden. RIP

print
Autor

Write A Comment