Aus aktuellen Anlaß zum 35. Jahrestag der Wiedervereinigung

Der Theatersaal von Alma Hoppes Lustspielhaus in HH ist bis auf den letzten Platz gefüllt; sogar einige Stühle wurden an den vorderen Tischchen noch dazugestellt.

Spontaner Applaus brandet auf, als Interviewpartner und Autor Hans-Dieter Schütt (ehem. Chefredakteur des FDJ-Zentralorgans „Junge Welt“ und von 1992 bis 2012 Feuilletonredakteur beim „Neuen Deutschland“) und schließlich Gregor Gysi die Bühne betreten. Gysi mag zierlich wirken, aber mit jeder Geste spürt man den Willen und das entschlossene Auftreten des inzwischen 77-Jährigen. Er weiß, daß er bis heute polarisiert, was ihm nichts ausmache, da er sich gut leiden könne.

Er agiert meist typisch Rechtsanwalt nach dem Motto, „mal gewinnt man, mal verliert man“. Andere von seinen Argumenten zu überzeugen ist quasi seine Profession oder gar Passion. Dabei geht es ihm nicht darum gemocht zu werden, sondern einzig darum, daß man seine Haltung akzeptiert. Nach der Wende sei er schließlich Jahre lang als Stasi-Schwein beschimpft worden.

Vieles weiß man von ihm, vieles nicht

Zu Beginn der Veranstaltung kommentiert er auf Befragen von Schütt die aktuelle Situation in der BRD. Meist gibt er Beispiele, warum das ein oder andere so gekommen sei, wer die Strippen gezogen und sich durchgesetzt habe. So habe er schon vor Jahrzehnten einen akzeptablen Mindestlohn gefordert, wurde aber seinerzeit nur verlacht.

Er und sein Gesprächspartner scheinen ein eingespieltes Team und „werfen sich gegenseitig die Bälle“ zu. Mit der Zeit übernimmt Gysi jedoch mehr und mehr die Regie und plaudert über seine Erlebnisse im Bundestag – nicht ohne diese mit der ein oder andere Anekdote zu schmücken. Man merkt ihm seine Lieblingsthemen an, die nun in einander fließen. Bei Zwischenfragen brilliert er meist mit Witz und wohl kalkulierter Rhetorik.

Immer wieder habe man versucht, ihn in die „primitive Kommunistenecke“ zu stellen, z.B. mit Angriffen wie:  Ja, ja, wenn es nach ihnen gehe, soll die 1. Klasse (z.B. in der Bahn) abgeschafft werden. Nein, so Gysi, besser die 2. Klasse, damit alle 1. Klasse reisen können. Wer ihn auf’s Glatteis führen will, muß gewappnet sein. Es ist kurzweilig ihm zuzuhören; nur ab und an nimmt er einen Schluck Mineralwasser.

Er ist stolz darauf, seine Partei bei den letzten Wahlen zusammen mit Bartsch und Ramelow (dank der Mission „Silberlocke“) auf über 8%  gebracht zu haben. Schon bei den Wahlkundgebungen sei gerade die Jugend sehr an den Linken als Gegengewicht zur nach rechts rückenden Mitte interessiert gewesen.

Im Fortgang erzählt er u.a. von seiner ersten Einladung durch Seehofer auf den Münchner Nockherberg. Das Starkbier sei nur so geflossen und er habe erst hinterher bemerkt, daß in den Maßkrügen der meisten bayrischen Politiker nur Apfelsaft oder helles Leichtbier gewesen sei, nur er habe mithin zu viel Starkbier getrunken.

Manchmal ist es wichtiger zu hören wie er etwas sagt, als was er sagt. Mit jedem Satz transportiert er Informationen und Insiderwissen und verschmitzt weist er an einer Stelle selbst auf den feinen Unterschied hin zwischen „jemanden der Ahnung hat“ und „Leuten die Ahnungen haben“ usw.

Wer ist Gregor Florian Gysi?

Gregor Gysi war und ist eine der zentralen und prominentesten Persönlichkeiten der PDS bzw. der Partei „Die Linke“ und wirkte maßgeblich auf das politische Geschehen in der Bundesrepublik seit der politischen Wende 1989/ 90 ein. 1989 wurde er zum Vorsitzenden der SED gewählt. Zu seinen politischen Erfolgen zählt u.a. die Transformation der vormaligen DDR-Staatspartei SED (der er ab 1967 angehörte) zur PDS und 2007 schließlich zur Linken. 2005 wurde Gysi wieder Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2005 bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion; von 2016 bis 2019 Präsident der Europäischen Linken. Dieses Jahr (2025) schließlich eröffnete er als Alterspräsident die konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages, obwohl dies nach bisheriger Regelung A. Gauland von der AfD zugestanden hätte.

Seine Herkunft und das familiäre Umfeld

Gregor Gysi wurde 1948 als Sohn des Kulturpolitikers und DDR-Diplomaten Klaus Gysi (1912–1999) und Irene Gysi, geb. Lessing (1912–2007), ebenfalls DDR-Kulturpolitikerin und Verlagsleiterin in Berlin geboren. Väterlicherseits entstammt er einer Berliner Familie, deren Stammvater der Seidenfärber Samuel Gysin (* 1681) war. Einer seiner Vorfahren väterlicherseits war der Begründer der deutschen Rassegeflügelzucht, Robert Oettel. Nicht ohne ein Schmunzeln weist er daraufhin, daß auch er u.a. eine landwirtschaftliche Ausbildung habe.

Vater Klaus war 1931 der KPD beigetreten und später für die DDR Botschafter in Italien und DDR-Kulturminister. Als „IM Kurt“ war er auch für die Staatssicherheit tätig.

Mütterlicherseits stammen Gysis Vorfahren von der jüdischen Kaufmannsfamilie Lessing ab, die aus der Nähe von Bamberg kam und zeitweilig in St. Petersburg lebte. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde die Familie aufgrund ihrer deutschen Herkunft nach Deutschland ausgewiesen. Seine Mutter Irene und Gottfried Lessing (1914–1979), der in zweiter Ehe mit der späteren Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing (1919–2013) verheiratet war, wurde als Botschafter der DDR in Kampala/ Uganda erschossen worden. Die Ehe der Eltern Klaus und Irene, die seit 1945 verheiratet waren, wurde 1958 geschieden.

Seine Schul- und Studienzeit (1954–1970)

Geboren wurde Gysi am 16.01.1948 in Berlin-Lichtenberg, aufgewachsen ist er im Ostberliner Stadtteil Johannisthal. Zunächst besuchte er die Polytechnische Oberschule, später ab 1965 eine Schule mit mathematischem Schwerpunkt im Stadtteil Adlershof. Hier machte er 1966 sein Abitur und gleichzeitig einen Abschluss als Facharbeiter für Rinderzucht im VEG Blankenfelde.

Infolge immatrikulierte er sich zunächst für ein Studium der Ökonomischen Datenverarbeitung in Berlin-Karlshorst. Sein Vater drängte ihn ein Studium der Internationalen Beziehungen in Moskau aufzunehmen, er entschied sich dann aber doch Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu studieren. Er war FDJ-Sekretär seines Jahrganges und für ein Jahr gewähltes Mitglied der Parteileitung der Humboldt-Universität. Sein Studium schloss er 1970 als Diplom-Jurist ab und wurde jüngster Rechtsanwalt der DDR.

Zufall oder nicht: Das Einberufungsschreiben für den Grundwehrdienst in der Nationalen Volksarmee erhielt Gysi erst nach der Immatrikulation. Als er sein Studium beendet hatte, konnte er sich aufgrund seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und als alleinerziehender Vater seines Sohnes George (heute 55 Jahre alt) dem Einzug entziehen. Vor dem Studium absolvierte er einzig eine dreiwöchige vormilitärische Ausbildung auf Rügen.

Seine Juristische Tätigkeit (seit 1971)

Nach dem Abschluss seines Studium arbeitete Gysi bis 1971 als Richterassistent. Ab 1971 war er einer der wenigen freien Rechtsanwälte in der DDR. 1976 erfolgte seine Promotion zum Thema „Vervollkommnung des sozialistischen Rechtes im Rechtsverwirklichungsprozeß“. In seiner Funktion als Rechtsanwalt verteidigte er auch Systemkritiker und Ausreisewillige wie Robert Havemann, Rudolf Bahro und Bärbel Bohley. Laut Gysi hätten diese politischen Fälle jedoch nur 5% seiner Mandantschaft ausgemacht; das Gros seinen Zivilrechts- und Strafrechtsangelegenheiten gewesen.

Von April 1988 bis Dezember 1989 war er Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte in Ost-Berlin und gleichzeitig Vorsitzender des Rates der Vorsitzenden der 15 Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR. Am 12. September 1989 war er zusammen mit dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in Prag, um die DDR-Flüchtlinge in der deutschen Botschaft zur Rückkehr in die DDR aufzufordern. 

Seit 2015 ist er Partner in der Kanzlei VGH (Venedey, Gysi, Höfler) in Berlin.

Sieben Leben – Highlights einer schillernden Karriere

Seine politische Karriere und die zahlreichen Mandate bis 1989 und danach sind zu vielschichtig und umfangreich, um hier aufgelistet zu werden. Sie können an einschlägigen Stellen und in seinen zahlreichen Büchern samt Kommentaren nachgelesen werden.

Seit 1967 war Gysi Mitglied der SED. Als er 1989 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit trat, arbeitete er an einem Reisegesetz mit und hat sich als Anwalt für die Zulassung des oppositionellen Neuen Forums sowie dem Fortbestand der DDR eingesetzt. Seine Eloquenz und rhetorische Begabung ließen ihn schnell zu einem der Gesichter des Wende-Herbstes 1989 werden. 

Im Dezember 1989 sprach sich Gysi auf einem Sonderparteitag der SED-PDS für eine Zusammenarbeit beider deutscher Staaten bei voller Wahrung ihrer Souveränität aus. Zugleich trat er entschieden gegen die „Diskriminierung“ und „Verfolgung“ bisheriger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und ihrer Familien auf. 

Ende 1994 gingen insgesamt sieben Abgeordnete und Mitarbeiter der PDS in Berlin, unter ihnen Gysi selbst, in einen Hungerstreik. Hintergrund war, daß das Berliner Finanzamt von der PDS eine Körperschaftssteuer in Höhe von 67 Millionen Mark forderte, obwohl das Altvermögen der Partei da schon von der Treuhand verwaltet wurde. Ergebnis: die PDS musste nichts bezahlen. Im Januar 1997 schied er schließlich als Mitglied des Parteivorstand aus.

1990–2002 und 2005–2015 war er Fraktionsvorsitzender der PDS bzw. der Linkspartei im Bundestag. Von 2016 bis 2019 war er Präsident der Europäischen Linken, von 2020 bis 2023 außenpolitischer Sprecher der Fraktion „Die Linke“ im Bundestag.

Gregor Gysi hat linkes Denken geprägt

… und wurde zu einem seiner wichtigsten Protagonisten. Hier im Saal und auch an anderen Stellen wie Talkshows, Podcasts, Podiumsdiskussionen etc. erzählt er (verständlicher Weise) gerne – und nicht ganz ohne Stolz – von seinen zahlreichen Leben als Anwalt, Politiker, Autor, Moderator und Familienvater. Seine Autobiographie gilt als „Geschichtsbuch“, das die Polarisierung von Entwürfen, Entwicklungen und Enttäuschungen des 20. Jahrhunderts auf sehr persönliche Weise beschreibt. Kaum ein deutscher Politiker wurde so geschmäht, kaum einer verteidigte sich so erfolgreich und ließ jegliche Diffamierungen (nach außen hin) an sich abgleiten – hin zu einer akzeptierten, prominenten Persönlichkeit. In seiner Autobiographie erzählt Gregor Gysi vor allem von der Wendung, die sein Leben im Herbst 1989 nahm: Aus dem Jurist wurde ein Politiker. Aufgeben war und ist nicht sein Ding, denn Widersprüche aushalten kann er. Sein Werdegang steht geradezu klassisch dafür, was sich im Laufe eines Lebens – sei es geplant oder zufällig – so alles ereignet. „Ein Leben ist zu wenig“ – dieser (Buch)Titel mag auf kaum jemanden so zutreffen, wie auf Gregor Gysi.

Anhaltender Applaus brandet auf, als er sich abschließend kurz verbeugt. Er blickt kurz in die Zuschauerrunde und genießt den Moment, nicht ohne seinem Moderator, Buch- und Bühnenpartner Hans-Dieter Schütt genügend Rampenlicht zu lassen.

Auf die Frage, warum er immer weiter mache und sich auch für die Bundestagswahl 2021 für ein Direktmandat zur Wahl stellte, soll Gysi gesagt haben, daß die „Gleichstellung von Ost und West noch nicht vollendet“ und sein „Job damit noch nicht erledigt“ sei.

Nach der 2-stündigen Bühnenveranstaltung steht Gysi trotz seines Alters und Reiseanstrengungen zwischen mehreren Bücherstapeln noch für eine Signierstunde zur Verfügung. Allein beim Aufbau-Verlag erschienen von ihm bis dato seine Autobiographie „Ein Leben ist zu wenig“, »Was bleiben wird« (mit Friedrich Schorlemmer), „Marx & Wir“, „Mein Vater“ (mit Gabriele Gysi), „Gysi vs. Sonneborn – das Kanzlerduell der Herzen“, „Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi“ und zusammen mit Peter-Michael Diestel „Zwei Unbelehrbare reden über Deutschland und ein bisschen über sich selbst“. Weitere Bestseller sind z.B. „Was Politiker nicht sagen“ oder „Gysi gegen Guttenberg“.

Die Schlange der Interessierten am Buchstand ist lang; wahrscheinlich auch, um ihn – den scheinbar Unverwüstlichen – einmal ganz aus der Nähe zu sehen.

Viele würden ihm noch mehr Sympathien entgegen bringen, wären da nicht die Vorwürfe der Verschleierung des SED-Vermögens und seine fragwürdige Stasi-Vergangenheit. Auch, wenn es in beiden Fällen viele Indizien gab, konnte ihm eine aktive Beteilung und eine nachhaltige Stasi-Vergangenheit als „IM Gregor“ oder „IM Notar“ nicht nachgewiesen werden.

In der Tat ist sein Drive umso bemerkenswerter, als er doch bereits zwei Herzinfarkte erlitten hat und er sich im November 2004 wegen eines Hirnaneurysmas einer Operation unterziehen mußte. Infolge dieses Eingriffs erlitt er einen dritten Herzinfarkt und kämpfte sich zurück. An anderer Stelle des Abends hatte er sich bereits als positiv denkender und wenig ängstlicher Mensch beschrieben.

Auch sein Privatleben ist eher turbulent, denn die erste Ehe endete bereits  Anfang der 1970er-Jahre. Auch seine zweite Ehe (geschlossen 1996) mit der Rechtsanwältin und Politikerin Andrea Gysi (geb. Lederer), wurde 2013 geschieden. Er hat drei Kinder; einen Sohn aus erster Ehe, eine Tochter aus zweiter Ehe und einen Adoptivsohn, den seine erste Ehefrau in die Ehe mitbrachte.

Aber bei alledem kann Gysi nicht nur Jus und Politik; er kann auch Kochen und Fußball. Bevorzugt jubelt er dann für den 1. FC Union Berlin.

Sein Tour-Kalender für 205/ 26 ist lang; hier zufällig ausgewählte Links:

GYSI GEGEN GUTTENBERG LIVE 2025

 

Anmerkungen: Fotos PFritz und AnPa
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