Im Vorfeld der nahenden Adventszeit spreche ich mit Chorleiterin Charlotta Henricson aus Göteborg, die selbst eine ausgebildete Opernsängerin an internationalen Bühnen ist und nehme an der letzten Chorprobe vor dem großen Auftrittsmarathon teil, der bereits Mitte November beginnt.
Dann steht eines der wichtigsten Schwedenfeste des Jahres an: das Lucia-Fest. Der eigentliche Lucia-Tag ist der 13. Dezember, aber die Ticketnachfrage ist seit Jahren so groß, daß es gleich in zwei Kirchen, nämlich St. Petri und der Gustaf-Adolfs-Kirche, mehrere Aufführungstermine gibt.



Schon am dritten und vierten Wochenende im November findet traditionsgemäß der Weihnachtsbazar in der schwedischen Gustaf-Adolfs-Kirche statt, aber auch in der nahe gelegenen dänischen, norwegischen und finnischen Kirchen. Dann herrscht nicht nur am Glögg-Stand, sondern überall großer Andrang, denn die zum Verkauf stehenden authentischen Dekoartikel (Töpferware, Leinenartikel, Adventskalender etc.) und Lebensmittel (u.a. Elch- und Rentierwurst, Heidelbeersuppe, Käse, Salz-Lakritz und sonstige Naschereien) sind heiß begehrt. Der Vorteil: In Hamburg haben nämlich gleich alle vier Nordischen Kirchen in der Ditmar-Koel-Straße unweit der St. Pauli-Landungsbrücken eine Heimat gefunden und es besteht unter den Kirchen ein reger Austausch. Unter der Hand sei verraten: die Finnische Kirche bietet sogar eine Sauna, die je nach Belegung auch von der Öffentlichkeit gegen Gebühr genutzt werden kann.



Das denkmalgeschützte Gebäude, in dem sich die Svenska Kyrka befindet, stammt von 1908 und hat im 2. Weltkrieg eine bemerkenswerte Rolle gespielt. Die Gemeinde gründete sich allerdings schon 1883 und ist damit die älteste Seemannskirche in Hamburg. Unter dem Dach des Gebäudes befinden sich neben der Kirche auch das schwedische Konsulat sowie Kulturräume und ein Cafe samt kleinem Shop. 2015 wurde alles liebevoll restauriert und ist Anlaufstelle für alle Schweden und Schweden-Interessierte. Oder wie Charlotta es ausdrückt: Wo „Exil-Schweden“ ihre Kultur leben dürfen, denn irgendwie bliebe im Ausland doch immer etwas von dem Gefühl des Andersseins. Die Kirchengemeinde ist daher so etwas wie eine Firma mit Herz“. Diese Aussage überrascht, denn die passionierte Seglerin spricht fast akzentfrei Deutsch und fühlt sich in Hamburg angekommen und angenommen.
Jeden Sonntag wird in der Regel um 11.00 Uhr ein Gottesdienst auf Schwedisch gefeiert. Der schöne Kirchensaal mit goldenen Leuchtern und von der Decke hängenden Schiffsmodellen ist beliebt für Taufen und Hochzeiten, aber auch für Trauer- und Gedenkgottesdienste. Jeden Donnerstag zwischen 14.00 und 16.00 Uhr findet eine Andacht statt, es wird aber auch gesungen, gestrickt, diskutiert und der ein oder andere landestypische Snack verspeist. Manchmal trägt man auch Tracht. An dieser Stelle sei erwähnt, das die schwedischen Auslandskirchen sich seit einiger Zeit weitgehend selbst finanzieren müssen; das gilt auch für den Chor.
Der besagte Chor besteht aus einem Erwachsenen- und einem Jugendchor (9-17 Jahre) und es gibt ihn seit Jahrzehnten. Er wird mit viel Engagement geführt und die rund 25 Mitglieder plus vier Solisten treten regelmäßig bei Konzerten auf. Chorleiterin ist die Sopranistin Charlotta Henricson, die seit einigen Jahren in Hamburg ihre Heimat gefunden hat. Sie schwärmt von der Sanges- und Lebensfreude des gemischten Chors, wobei eigentlich nur vier waschechte Schweden*innen darunter sind. Alle anderen sprechen oder verstehen zumindest Schwedisch, weil sie schwedische Verwandte/ Bekannte haben oder für ein schwedisches Unternehmen arbeiten, etc.
Chorsingen hat in Schweden eine lange Tradition und damit sind nicht nur Kirchen- oder Schulchöre gemeint. Charlotta schätzt, daß ca. 70% aller Schweden im Laufe ihres Lebens einmal in einem Chor singen.
Nur rund 250 Schweden*innen leben in Hamburg, angesichts der 1,9 Millionen Einwohner der Hansestadt (bei einem Ausländeranteil von ca. 20%) ein verschwindend geringer Prozentsatz. Sie alle sind bestens integriert und leben gerne hier, wenn aber Mittsommer oder das Lucia-Fest ansteht, kommen Kindheitserinnerungen an Wärme, Familie und Gottesdienste auf und keiner möchte diesen Moment des Jahres verpassen. „Es ist einfach ein Teil der schwedischen Identität“, so Charlotta. Sie denkt kurz nach und fügt hinzu: „so erlebe ich es seit meinem sechsten Lebensjahr und möchte es nicht missen.“ Spontan muß ich an den Ohrwurm „Driving home for Christmas“ denken, zumal die gestandene junge Frau noch anmerkt „ab Hamburg nur einmal umsteigen und schon ist man mit dem Zug in Göteborg“. Wie sympathisch, denn macht Weihnachten uns nicht alle – unabhängig vom Glauben – etwas sentimental?
Im Gegensatz zu den Alljahres-Konzerten, wird anläßlich der Lucia-Konzerte ausschließlich in Schwedisch gesungen, das sei der Gemeinde bzw. dem Chor wichtig, so Charlotta. Es gibt mehrere Konzerte, aber das Programm kann jedes Mal etwas variieren. Da heißt es gut 20 Lieder (mit und ohne Klavierbegleitung) im Repertoire zu haben und ergänzend auch geeignete Lesetexte und Gesangssoli auszusuchen.
Charlotta ist es wichtig zu erwähnen, daß das traditionelle Lucia-Fest zwar in einer Kirche stattfindet, sie die Abende aber als „Lucia-Konzerte“ verstanden wissen will, nicht als Advents-Gottesdienst. Die Dauer variiere zwischen 30 und 50 Minuten Chorprogramm, ergänzt um den legendären Luciazug sowie einigen Soloeinlagen; entweder von ihr, Brian oder ihrem schwedischen Kollegen Pettr Bjällö.
Mag das Liedgut an schwedischen Kirchen- und Volksliedern vielfältig sein, so bleibt eines an diesen Tagen ein Muß: das Lucia-Lied. Jeden 13. Dezember trägt der etwa 400 Jahre alte Brauch so stimmungsvolle Momente in die ganze Welt – nicht nur auf schwedischen Boden.


Lichter, Lieder, Leckereien
Das Fest gedenkt der Heiligen Lucia von Syrakus, einer Märtyrerin aus dem 3. Jahrhundert. Sie gilt als die „Leuchtende“ oder „Lichtbringerin. Der Legende nach versorgte sie verfolgte Christen in den Katakomben mit Essen, in dem sie einen Kerzenkranz auf dem Kopf trug, um beide Hände frei zu haben. Andererseits beschreibt das Fest die Wintersonnenwende, die am 13.12. nach dem Julianischen Kalender der kürzeste und mithin (theoretisch) dunkelste Tag im Jahr ist.
Das Herzstück der Lucia-Tradition bildet eine Prozession mit Sängern*innen in weißen Roben, angeführt von einer Lucia. Alle tragen Kerzen und bringen Licht, sei es in Kirchen, Kindergärten, Schulen, Pflegeheimen oder Büros im ganzen Land. Traditionell wartet das Publikum in der Dunkelheit auf den Umzug. Das erste Anzeichen dafür, dass sich Lucia und ihr Gefolge nähern, ist ein aus der Ferne ertönender, glockenheller Gesang. Der Großteil der Schweden kann das traditionelle Lied „Sankta Lucia“ auswendig und stimmt in den Gesang mit ein. Erst 1928 verfasste Arvid Rosen den heute bekannten schwedischen 3-Strophen-Text:
Natten går tunga fjät
runt gård och stuva.
Kring jord som sol förlät,
skuggorna ruva.
Då i vårt mörka hus,
stiger med tända ljus
Sankta Lucia, Sankta Lucia. usw.

Der strahlenden Lucia folgen in der Regel singende Mädchen (Tärnor). Sie tragen weiße Roben mit roten Tallienbändern, einen schlichten Haarkranz und jeweils eine Kerze in der Hand. Dann folgen die Sternenknaben („Stjärngossar“) mit spitz zulaufenden Hüten und Sternenstäben in der Hand sowie die Pfefferkuchenmännchen („Pepparkaksgubbar“). Letztere tragen Laternen und Lebkuchenkostüme. Außerdem verkleiden sich respektive verkleidet man kleine Kinder um diese Zeit gerne als Weihnachtswichtel („Tomtenissar“).
Lucias Charakteristikum ist eine Krone mit fünf oder sieben Kerzen, die manchmal (aus Sicherheitsgründen) schon elektrisch oder per LEDs brennen. Die Krone auf dem Kopf zu balancieren, ist gar nicht so einfach, denn sie ist meist relativ schwer und unbequem und das Wachs tropft gelegentlich herunter in’s Haar oder die Stirn. Dies passiert insbesondere dann, wenn im Freien, in Kirchen oder langen Gängen Zugluft weht. Während in früheren Zeiten sich die jungen Mädchen darum stritten die Lucia zu sein, hat die Begeisterung die fragile Krone zu tragen eher nachgelassen. Auch wenn der Brauch mit der Zeit geht und eine Lucia nicht immer blond sein muß. Mädchen und Frauen jeder Herkunft können die Heilige des Lichts verkörpern. Ich erinnere mich mich noch gut an die Pressefotos, als Prinzessin Victoria seinerzeit in Stockholm hoch konzentriert die Krone trug.
Charlotta hält sich bei der Entscheidung über die Auswahl der Lucia oder den Lucias in der hiesigen Schwedengemeinde zurück. Ihr ist es verständlicherweise eher wichtig, daß es kein Schönheitswettbewerb ist, sondern jede Lucia auch stimmlich etwas zu bieten hat und auch sozial engagiert ist. HIER ein Blick nach Schweden 2012, wo am Luciatag meist schon Schnee liegt (Vorspann ggf. überspringen).
Traditionelle Schmankerl
Lucia bringt nicht nur Licht ins Dunkel, sondern auch typisches Gebäck wie Pfefferkuchen und „Lussekatten“ (= Luciakatzen). Letztere sind süße , meist S-förmig geformte Zimtschnecken mit je zwei Rosinenaugen (ggf. mit leichter Glasur oder Hagelzucker betreut) wie sie nur zu dieser Jahreszeit gebacken werden. Auch wenn in unseren Supermarktregalen Christstollen und Dominosteine schon Ende September ins Regal gelangen, wäre es für viele Schweden geradezu Blasphemie, das Safrangebäck vor dem Lucia-Tag oder nach Weihnachten zu verzehren. Zu Trinken gibt es traditionell Glögg, eine Art Glühwein, der oft mit Mandeln und Rosinen in die Tasse kommt. Alternativ wird auch Kaffee serviert.
Die Weihnachtszeit verpaßt? Kein Problem. Wer nach Göteborg kommt, der kann sich das ganze Jahr über im Cafe Husaren an Hefeschnecken aller Art und vor allem in XXL-Größe stattessen.


Das Lucia-Fest im Wandel der Zeit
Was als Heiligenverehrung begann, ist heute ein kultureller Brauch, der sich dementsprechend weiterentwickelt. War in der Vergangenheit allein schon die Auswahl und Krönung jeder Lucia ein wichtiges Ereignis, entscheidet in den Schulen heutzutage das Los und bei jüngeren Jahrgängen verteilt man die Auftritte oft auf mehrere Personen. 2018 konnten sich in Malmö angeblich sogar Männer für die Rolle der Lichtgestalt bewerben. Ob dies noch so ist und wie die Neuregelung ankam, entzieht sich meiner Kenntnis.
Auch die Bäckereien halten immer neue Kreationen mit Safran sowie vegane Alternativen parat. Die stolze Geschichte ehren und Traditionen wahren, aber sie nicht verstauben lassen. Oder wie heißt es so schön: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern – hier im wahrsten Sinne des Wortes – die Weitergabe des Feuers“.
In Deutschland gibt es neben Hamburg auch eine Schwedische Kirche in Berlin, Frankfurt und München; auch dort stehen im Dezember mehrere Lucia-Events im Kalender. Auch Lettland, Ungarn, Russland und China (?) zelebrieren angeblich Lucia-Konzerte nach schwedischem Vorbild. Das Fest ist einfach zauberhaft und hat gerade in der kalten, dunklen Jahreszeit etwas Magisches. Bleibt bei aller Globalisierung nur zu hoffen, das das kleine Zeremoniell (gerade außerhalb Europas) nicht zu einer Disney-Show wird.
Ursprünge des Liedes und der deutsche Text
Ursprung des Liedes, zumindest der Melodie, ist Italien bzw. Neapel, wo es 1849 von Teodoro Cottrau geschrieben wurde. Ursprünglich beschreibt es eine Lichterkahnfahrt im Mondschein.
In der deutschen Sprache findet man gleich mehrere Übersetzungen bzw. Interpretationen. Folgende Variante kommt der schwedischen Version wohl am nächsten:

Alternativ:
Dunkelheit sie liegt so schwer
auf allem Leben.
Sonne, die scheint lang‘ nicht mehr,
Nachtschatten schweben.
Durch dunkle Stub‘ und Stall,
schreitet im Lichterstrahl
Sankta Lucia, Sankta Lucia.
Nacht war so still und stumm,
nun hört man ein Brausen.
Ums stille Haus herum,
nun hört man Flügelrauschen.
Seht dort wie wunderbar,
kommt her mit Licht und Haar.
Sankta Lucia, Sankta Lucia.
Bald flieht die Dunkelheit,
aus dieser Welt.
Bald steigt der Tag erneut,
vom Himmelszelt.
Welch‘ wunderbarer Geist,
der uns dies Licht verheißt.
Sankta Lucia, Sankta Lucia.


Einladung zur finalen Chorprobe
Ledigleich beim Einsingen der Probe kann ich kurz mit einstimmen, da mir der Text der beiden Klassiker „Jul, Jul, Strålande Jul“ und „Oh helge Nat“ nicht geläufig ist. Für Leute, die „Plattdeutsch“ verstehen, mag es etwas leichter sein, denn es besteht eine gewisse Sprachverwandtschaft mit dem Schwedischen.
So wichtig wie das Fest, sind auch die Vorbereitungen und Chorproben dafür. Am 06.11. war schon der NDR zu TV-Aufnahmen da. Die Chormitglieder (darunter vier Herren) sind schon länger dabei und kennen das Repertoire. Einige davon haben auch schon die Lucia-Krone getragen, so wie Luisa. Zusammen mit einigen Kolleginnen wartet sie im Treppenhaus der Kirche – der eigentliche Kirchenraum liegt in der Tat im ersten Stock und nicht im Erdgeschoß – auf den Beginn der letzten Probe. Was alle eint, ist die Vorfreude. Und sollte einmal die Stimme versagen oder eine Erkältung drohen, hat so jede gegen die sog. Sängerpest ihr Rezept. Thymian- und Salbeiprodukte stehen dabei ganz weit oben. Der Einzug mit der Krone werde heute nicht geprobt, so Luisa. So viel sie wisse, wird dieses Jahr u.a. Christina die Krone tragen. Dabei zeigt sie in Richtung der besagten jungen Chorkollegin. Im Hintergrund hört man indes die Stimme eines Solisten, das sei Brian, so Luisa. Er singe die nächsten Tage ein paar Soli, auch beim anstehenden großen Sponsorenabend.
Hej, hey. Ganz spontan und freudesstrahlend kommt noch Ingrid auf mich zu. Sie ist eine der „echten Schwedinnen“ im Chor und stammt aus Skellefteå, das in der Provinz Västerbotten am Bottnischen Meerbusen in Schwedisch-Lappland liegt. Nach Stockholm sind es von hier aus fast 800 Kilometer.
Nun aber ist es Zeit für die Chorprobe. Souverän und motivierend – mal mit kleinen, mal großen Gesten oder auch einem Scherz – läßt Charlotta ganz im typischen Dirigenten-Schwarz, das ein oder andere Lied anstimmen. Darunter – wohl eher mir zu liebe – auch Sankta Lucia. Bei alledem geht es nur um den Feinschliff und einige organisatorische Abläufe. Ein kurzes Winken zum Abschied und meinerseits ein herzliches „tack så mycket“ – danke schön.
Schon drei Tage später traf ich sie alle wieder, dann festlich gekleidet und natürlich im Lichterschein mit echten Kerzen – so wie die Tradition es gebietet.
Es ist so weit …






Das flackernde Kerzenlicht ist traditionsgemäß eine Einladung an alle Menschen, symbolisiert es doch Hoffnung und Wärme. Der Besuch eines Lucia-Konzertes und der kleinen gemütlichen Bazare ist überdies eine gute Gelegenheit, ein Stück schwedische Kultur vor der Haustür zu erleben ohne weit zu reisen. Dann kann jeder auf seine Weise einmal Lucia, die Lichtbringende sein. „Ett varmt Välkomnande“
Anmerkung: Fotos PFritz und Svenska Kyrkan Hamburg
