Die Hansestadt hat weit mehr zu bieten als Reeperbahn, Randale, Musical, Fischmarkt, Hafenanlagen, Luxustempel oder Fußball.

VIER Veranstaltungen bzw. Örtlichkeiten der besonderen Art habe ich kürzlich besucht. Auf den ersten Blick könnten sie unterschiedlicher nicht sein und doch eint sie eine gewisse Außenseiterrolle: Die Flußschifferkirche in der Hafen-City, einen der letzten Paternoster im Laeiszhof, das English Theatre in Eilbek und das Erotic Art Museum in St. Pauli.

Die FLUSI https://www.flussschifferkirche.de/de/

„Wenn die Menschen nicht zur Kirche kommen können, muß die Kirche eben zu ihnen kommen“ bzw. schippern, so Johann Wichern, als er 1870 in Hamburg die Binnenschifferseelsorge gründete. Schiffsprediger und Seemannspastoren, die den Seeleuten aus der Bibel vorlasen, gab es jedoch bereits im 18. Jahrhundert; seit 1747 gar die erste schwimmende Kirche, deren Gottesdienste mit der Schiffsglocke eingeläutet wurden. Seit Mai 2006 liegt das Kirchenschiff an seinem jetzigen Platz im Binnenhafen (Hohe Brücke 2). Die evangelisch-lutherische Flussschiffer-Gemeinde steht Binnenschiffern und ihren Familien, aber auch allen Menschen offen, die in Hafennähe wohnen oder einfach nur Gäste sind. Ein wahrhaft authentisches, maritimes Erbe; während des kurzen Gottesdienstes glaube ich für einen Moment eher unter Hallig-Bewohnern, als in der Großstadt zu sein.

Das 26 Meter lange und sieben Meter breite Schiff bietet rund 100 Sitzplätze. Erbaut 1906, wurde die Schute 1952 in eine Kirche umgebaut. Seit 1961 ist eine kleine Pfeifenorgel an Bord. Das Besondere: Manchmal gibt es spezielle Gottesdienste, die teilweise op platthttps://de.wikipedia.org/wiki/Niederdeutsche_Sprache  also in Plattdütsch gehalten werden. Ich hatte das Glück Jan Wulf (Moderator, Kulturmanager und Redakteur/ Sprecher beim NDR) in seinem Element zu erleben. Mit etwas Phantasie kann man den Worten gut folgen. Das schwimmende Gotteshaus  bedankt sich für jede Spende; ich wünsche der Flusi weiterhin immer eine Hand breit Wasser unter dem Kiel. Die Website beinhaltet übrigens nicht nur Veranstaltungsinformationen und Fotos, sondern auch einen 3D Rundgang.

Das LAEISZ-Kontorhaus am Nikolaifleet

Unweit vom Hafen im sog. Laeiszhof, https://de.wikipedia.org/wiki/Laeiszhof  der schon architektonisch eine Sehenswürdigkeit ist, ein weiteres Highlight: einer der wenigen, öffentlich noch zugänglichen Paternoster. Die 14 Umlaufkabinen über vier Stockwerke laufen zügig und werden von den Mitarbeitern rege genutzt. Mit ein wenig Routine lernt man schnell den günstigsten Zeitpunkt für den Ein- und Ausstieg zu kalkulieren, d.h. stets einen Moment bzw. Schritt früher als parallel zum Geschoß zuzusteigen.

Das ETH https://eth-hamburg.de/

The English Theatre“ im Stadteil Eilbeck nahe des Mundsburg-Towers wurde 1976 ursprünglich von zwei Amerikanern gegründet, brilliert aber regelmäßig mit britischen Klassikern, Matineen und Sunday Specials. Mit 160 sehr bequemen Sitzplätzen ist es eher klein, aber in einer interessanten Location untergebracht. Das sog. Harmonia Bad (Lerchenfeld 14) ist ansonsten nämlich ein Ärztehaus in historischen Ambiente. Eine kleine Bar rundet den Empfangsbereich ab.

Ich hatte das große Vergnügen die letzte Karte in der ersten Reihe für „The Hound of Baskervilles“ (von Sir A. Conan Doyle) zu bekommen. Aufgrund der räumlichen Nähe meint man direkt auf der Bühne zu sitzen und Teil des Stückes zu sein. Kostüme, Bühnenbild, Licht und besondere Effekte sind geschickt gewählt und die Schauspieler einfach brilliant. Schon nach wenigen Minuten glaubt man mitten in London, z.B. in Covent Garden oder einem Theater im West End zu sein.  Die drei Akteure schlüpfen so flink und perfekt in verschiedene Rollen, daß einem manchmal ganz schwindlig wird. Dabei bleibt das Englisch stets so klar und deutlich, daß man kein englischer Muttersprachler sein muß, um den Stücken vergnüglich leicht zu folgen. So glänzte Charlie Tripp (Absolvent des Royal Welsh College of Music and Drama)  u.a. als Sherlock Holmes, während Benjamin Press (Absolvent der Neighborhood Playhouse School in New York) Dr. Watson verkörperte und Kathrine Rodden (Ausbildung an der Oxford School of Drama) geradezu artistisch, mimikstark und witzig als Sir Henry agierte. Zweieinhalb Stunden, die wie im Fluge vergingen.

Gelegentlich werden auch Workshops angeboten, um einmal selbst in eine Rolle zu schlüpfen. Ton- und Bildaufnahmen sind allerdings verboten, umso mehr sollte man sich von dem exzellenten Preis-Leistungs-Verhältnis (Ticketpreise zwischen 18 .- und 48.-) und dem freundlichen Kartenservice selbst überzeugen.

Hintergründige EROTIC

Es muß keineswegs immer eine Massenführung a la DragQueen Olivia Jones sein, die sich ohnehin nur noch selten persönlich sehen läßt.  Meine spezielle Erotica-Tour in der Kleinstgruppe von fünf Personen endet im Erotic Art Museum und startet an der Grenze zwischen Dänemark und Deutschland. Ja, richtig gehört, denn mitten auf der Reeperbahn, wo heute eine alte Laterne und ein kleiner Grenzstein stehen, grenzte Hamburg bis 1937 an den heutigen Stadtteil Altona, das damals die zweitgrößte Stadt Dänemarks war.

Tourguide Nina ist ein echtes St. Pauli-Kind, d.h. sie ist dort geboren, aufgewachsen und in’s Gymnasium gegangen. Offen und mit Charme informiert sie über das Alltagsleben auf dem Kiez und führt am frühen Abend (vor Geschäftsbeginn) zu versteckten Orten von St. Pauli. Wer würde schon vermuten, daß sich hinter einer Tür ohne Aufschrift und Klingel (nur einem handschriftlichen Pappschild) in einem Durchgang der Zugang zu einem renommierten Kinky Club verbirgt? In der Tat wird uns nach Klopfen Einlaß gewährt und alle Smartphones landen in einer sicheren Box an der Garderobe. Die diversen Fetisch-Spielarten werden nur kurz thematisiert, im Vordergrund stehen vielmehr die Clubregeln, wie einvernehmliches Handeln, Sicherheit, Dresscode, der kleine Eintrittspreis von EURO 18.-, zivile Getränkepreise (ab 4,50 EURO für Wasser, Cola oder Bier, etc.). Nina nennt das „positiven Sex“, denn auch nur Verweilen, Live-Musik hören und etwas Trinken ist möglich. Einzige Bedingung ist schwarze oder keine (evtl. String) Kleidung. Ungefragt „angegrabscht“ wird hier trotz schummrigen Ambiente niemand.  

Weiter geht es in die hinterste Ecke eines unscheinbaren Kiosks. Dort gibt es einen Kellereingang zu einem ehemaligen Bunker, in dem u.a. Werke des Erotic-Künstlers Fiete Frahm ausgestellt sind. Als dieser vor rund 40 Jahren diese Kollagen schuf, war der besagte Quereinsteiger bereits 70 Jahre alt. Vor einem Sardo-Maso-Club stellt sich heraus, daß es sog. Schwarze und Weiße MS-Praktiken gibt; letztere nur von medizinischem Fachpersonal ausgeführt werden darf usw.

Insiderin Nina trifft im Tourverlauf auf viele Bekannte und ist für alle Fragen offen. Vor sechs Jahren suchte sie nach dem Abitur nur einen Job und blieb daran hängen. Sie sei einfach gerne mit interessierten Leuten unterwegs und könne sich derzeit keine andere (bessere) Tätigkeit vorstellen. Selbst anstrengende Junggesellenabschiede habe sie im Griff. Sie lacht, schließlich könne sie morgens immer ausschlafen. Einzig über Geld oder Verdienste bewahrt man Stillschweigen. Überhaupt spielen Diskretion, Vertrauen und Solidarität in diesem Milieu eine große Rolle. Ein wenig schelmisch erzählt sie an anderer Stelle bei einem Minigläschen „Mexicana“ (Tequila mit gewürztem Tomatensaft) dann doch, wie und wo zu Corona-Zeiten doch so manche Tour und „körpernahe Dienstleistung“ stattgefunden habe. Ohne etwas „Sternenstaub“ und ein gewisses Talent sich täglich neu zu erfinden, geht es schließlich in keiner Branche. „Leben und Leben lassen“, alle sexuellen Orientierungen liberal akzeptieren, so lange zwischen den Partnern oder Gruppierungen Einverständnis besteht und sonst niemand gestört wird. Und schließlich gebe es jenseits des „Reeperbahn“ auch noch das St. Pauli der ruhigen Ecken, wo man bürgerlich wohnt und regulären Berufen nachgeht.

Natürlich führt die 2,5-stündige Tour auch an profanen Punkten wie der „Davidwache“ am Spielbudenplatz oder dem größten Erotic Kaufhaus Europas vorbei. Sie endet im EAM (Erotic Art Museum), dem „Reich des Reverend“. Mit bürgerlichem Namen heißt dieser Ekkehard Opitz (seit über 30 Jahren in St. Pauli fest verwurzelt) und ist seit 2018 u.a. Direktor des Erotic Art Museums. https://de.wikipedia.org/wiki/Erotic_Art_Museum_Hamburg. Auch er ist „Zusteiger“ und nach dem Studium der Kulturwissenschaft in Tübingen und Lüneburg im liberalen Hamburg hängen geblieben. Heute ist er hauptsächlich als IT-Spezialist tätig und managed mehrere St. Pauli Buchungsplattformen. 2021 entwickelte und   programmierte er für das Museum die erste NFT-Präsentation erotischer Kunst Deutschlands. D.h. mittels einer VR-Brille kann man in 16 virtuelle Kunsträume eintauchen. Der Besucher des Erotic Art Museums kann diese direkt vor Ort aus einem Bürostuhl aus erleben. Dem nicht genug ist „Reverend Ekke“ seit 2019 auch noch Kurator des einzigen Weinberges in Hamburg, dem Stintfang (99 Reben) oberhalb der Landungsbrücken. Regelmäßig berichten die Morgenpost und das Hamburger Abendblatt über seine sozialen Aktionen und auch mal frivoleren Aktivitäten.

Highlights des kleinen Museums in der Bernhard-Nocht-Straße (nahe Landungsbrücken und Tropen-Institut) sind die original Tür aus dem legendären Star-Club, wo seinerzeit die Beatles auftraten und ein großes Gemälde der einst bekanntesten Prostituierten Deutschlands:Domenica. Über sie und ihr späteres soziales Engagement bzw. wirkliches Leben und Auszüge aus ihrer „Kunden-Korrespondenz“ kann vor Ort nachgelesen werden. https://de.wikipedia.org/wiki/Domenica_Niehoff

Natürlich sind auch ein paar historische Sexspielzeuge zu sehen, aber hauptsächlich wird die Zeit der 40-iger bis 80-iger Jahre beleuchtet, in der nicht nur Prostituierte Freiwild waren, sondern auch gleichgeschlechtliche Liebe gem. § 180a  gesetzlich verfolgt und bestraft wurde. In verschiedenen Ecken kann man sich gemütlich niederlassen und lesen, erotische Stumm-Filmchen schauen, in alten Beate Uhse-Katalogen blättern oder mit „Ekke“ über Dies und Das diskutieren bzw. durch virtuelle Welten fliegen. Mehr als die Hälfte der Besucher sind übrigens Ausländer, dann wechselt der sympathische Allrounder mit Herz einfach in’s Englische.

Bliebe noch viel über die Bewohner von St. Pauli zu sagen. Natürlich sind einige keine Engel oder gar (Clan)Kriminelle,  aber die meisten sind „normale“ Menschen, also keine (drogenabhängige oder sexgeile) Looser ohne Ausbildung. Sie sind da (oft vor vielen Jahren zugewandert), weil sie dort sein wollen, sich zufrieden und zu Hause fühlen. Deshalb sind „Ekke“ und Kult-Kiezler „White Dandy“ alias Götz Barner seit einigen Jahre Freunde von mir. Ich mag ihre unkonventionelle ehrliche Art, wie sie heute zunehmend seltener wird. Mit ihrer fortdauernden Präsenz wehren sie sich auf ihre Art gegen Vorverurteilung alternativer Lebenskonzepte und ein umfängliches Schmuddel-Image.

Ach ja, schon erraten, woher die Begriffe “auf den Strich gehen“ und  „Vögeln“ kommen?

Mit „Strich“ war/ ist eben jene Grenzlinie unter der anfangs erwähnten Laterne gemeint, die Altona von Hamburg trennte, wobei seinerzeit eben nur im dänischen Altona sexuelle Freizügigkeit geduldet war. Nicht umsonst nennt sich die benachbarte Straße „Große Freiheit“.

Waren die Seemänner auf großer Fahrt, hängte so manche untreue Ehefrau eine Lampe oder einen Vogelkäfig ins Fenster, als Zeichen für den Liebhaber bzw. „sturmfreie Bude“.  Moin, moin …

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