Schöner als es Jonny Rieger in seinem Buch „Ein Balkon über dem Lago Maggiore“ in Worte und Bilder fasst, kann man Landschaft und Leute des Tessin nicht beschreiben. Seine detaillierten Schilderungen kommen fast einer Liebeserklärung an diesen teils schroffen, teils lieblichen Landstrich gleich, der sich kulturell auf zwei Länder erstreckt: die Schweiz und Italien. Dementsprechend ist Italienisch auch die erste Sprache vor Ort, aber es wird auch Deutsch verstanden und gesprochen. Und wenn man fast gar nichts mehr versteht, dann sprechen die Einheimischen untereinander ihren landestypischen Dialekt, der Rest der alten lombardischen Sprache. https://de.wikipedia.org/wiki/Kanton_Tessin

Als ich kürzlich mal wieder in der Gegend war, ging es mir wie seinerzeit dem zuvor genannten Autor. Da ist man ein halbes Leben durch die Welt gereist, um Gletscher, grandiose Berglandschaften, Meere und liebliche Seen samt tropisch-mediterranem Ambiente zu erkunden; und hier kann man auf wenigen Quadratkilometern alles zusammen erleben. In diese Landschaft muß man sich einfach verlieben; egal ob bei Sonnenschein oder im herbstlichen Nebelhauch der zahlreichen Kastanienbäume. Kein Wunder, blühen doch auch hier „Goethes Zitronen“, nicht nur in Neapel oder Sizilien.

Apropos Kulinarik. Auch in diesem Punkt bleibt kaum ein Wunsch offen. Neben Kiwis und Feigen findet man hier eines der nördlichsten Reisfelder (Trockenanbau) der Erde. Schon mal einen weißen Merlot getrunken? Hand auf’s Herz, dachten Sie nicht auch immer ein Merlot sei eine ausschließlich rote Traube, die zu Rotwein vergoren wird? Aber das Staunen geht weiter, wenn man den Weißen im Glas hat: er hat kaum Farbe, d.h. ist fast klar wie Wasser, riecht aber wie ein Gewürztraminer und schmeckt meines Erachtens wie ein Chablis.

Aber Vorsicht, man sollte einen klaren Kopf behalten. Im Tessin ist es von Vorteil gut zu Fuß zu sein, denn so ziemlich alle Orte liegen am Hang und sind reichlich von Treppensträngen durchzogen. Hinter jeder Biegung und jedem steinernen Anstieg wartet eine überraschende Entdeckung; es ist wie eine Sucht sich treiben zu lassen und immer höher zu steigen. Mal sind es Designer-Häuser aus Glas und Beton, mal Rusticos oder halbverfallene Steinhütten, die eher einem verlassenen Stall ähneln. Dazwischen eiserne Gitter und in den versteckten Gärten die üppige Pracht mächtiger Hortensienbüsche, Rosenstöcke oder altehrwürdiger Palmen- und Zypressengruppen. Blätter rauschen, ein Käfer brummt vorbei, aus einer Röhre fällt ein Wassertropfen in einen Steintrog, in der Ferne bimmelt ein Glöckchen, dann wieder Stille.

Rieger beschreibt diese Wahrnehmungsmomente als „fiebrig heiße Blumen zwischen kalten tiefen Schatten der Steinmauern. Der klamme Hauch aus einer abgestandenen Zeit“.

Alle waren sie schon hier: die Truppen der Habsburger, die Heere Napoleons. Alle begehrten sie dieses Land, doch schließlich schloss sich das arme Tessin im Jahre 1803 dem Schweizer Bund an. Kantonshauptstadt ist heute Bellinzona (mit seinen drei mächtigen Burgen), nicht etwas das größere und bekanntere, mondäne Lugano.

 

Trotz aller Schönheit und einem jahrzehntelangen Tourismusboom gilt es in den Augen der Schweizer noch immer als das „Armenhaus“ des Landes. Naja, das ist freilich relativ, denn eine Kugel Eis kostet auf der Piazza Grande von Locarno zirka CHF 3.-, also um die EURO 2,70. Die Mieten sind sowohl hier, als auch im benachbarten Ascona teils exorbitant und können schnell bei monatlich CHF 2.000.- bis 4.000.- für eine 25 bis 30 Quadratmeter-Wohnung liegen. Sicher geht es auch preiswerter, aber ohne Seesicht im Kontrast zu den im Winter beschneiten Berggipfeln fehlt einfach der Sinn des Hierseins. Gerade in den höher gelegenen Gemeinden wie Ronco sobre Ascona, Orselina oder Brione hängen die Balkone wie Schwalbennester über dem Abgrund. Ein Ausblick schöner als der andere. Tief unten schwimmen die beiden kleinen Brissago-Inseln, die wiederum ihre ganz eigene Geschichte haben. https://de.wikipedia.org/wiki/Isole_di_Brissago

Als ich an einem Sonntag durch die alten Kopfsteinpflastergassen von Vico-Morcote (oberhalb des eigentlichen Dorfes am romantischen Seeufer des Luganer Sees) schlendere, treffe ich an einer kleinen Wegkreuzung auf ein fröhliches Dorffest. Die Menschen sind herzlich und laden den freundlichen Fremden (auch in Corona-Zeiten) gern zu Tisch.

Ein Muß an dieser Stelle ist zweifelsohne der nahe gelegene und kostenfrei zugängliche „Parco Scherrer“, ein Traumgarten über mehrere terrassierte Ebenen, der verschiedene subtropische Kulturen vereint. https://de.wikipedia.org/wiki/Morcote. Asiatischer Bambus wächst dort zwischen Wasserläufen und Springbrunnen ebenso, wie mexikanische Kakteen, bereichert um marokkanische Mosaikböden, ägyptische Statuen und griechische Säulentempel, etc.

Manchmal ist es gerade um die Mittagszeit zwischen den Steinmauern der Dörfer und den Schluchten des Maggia- und Verzasca-Tales berauschend still. „Die verwitterten Mauern im Dornröschenschlaf nehmen keine Notiz von mir; keine lebende Seele scheint es hier zu geben“. Ein anderes Beispiel ist das Bergdorf Indemini – hoch über dem See unweit der Alpe di Neggia (auf 1.400 Meter Höhe) und nur über unzählige schwindelerregende Kehren zu erreichen. Immerhin, es ist inzwischen mit dem Auto zu erreichen. Fragend gleiten meine Blicke umher, überall nur steile Granit-Treppen und enge Passagen. Treppen wie Leitern, fast senkrecht hoch oder Treppenrampen, die einen Steinbogen von einem zum anderen Haus schlagen. https://de.wikipedia.org/wiki/Indemini

Langsam beginnt es zu dunkeln und von allen Seiten tauchen an den Hängen und entlang des Seeufers unzähligen Lichter der Ortschaften auf. Ein letztes Mal ertönt das Horn eines Passagierdampfers. Längst sitze ich wieder auf meinem bevorzugten Balkon. „Buona sera“ – die sprichwörtlich „Blaue Stunde“ beginnt. Ich zünde eine Kerze an und schenke mir ein Glas „Nostrano-Rotwein“ ein. Schluck für Schluck lasse ich die Szenerie der letzten Tage Revue passieren: die spektakuläre Ponte Brolla über die Maggia-Schlucht (häufig Austragungsort im Klippenspringen), das entlegene Grotto Pozzasc mit seinen rußgeschwärzten Polenta-Kesseln, Bosco Gurin (höchstgelegenes Dorf des Tessin, Skigebiet) und der Künstlerberg Monte Veritá kommen mir spontan in den Sinn. https://de.wikipedia.org/wiki/Ponte_Brolla

https://de.wikipedia.org/wiki/Monte_Verit%C3%A0

Was für ein Privileg. In diesem Moment bin ich – wie Rieger in den Fünfzigerjahren – der glücklichste Mensch Europas.

Auf eine reiche Bebilderung habe ich dieses Mal bewusst verzichtet, um den Zauber dieser Gegend der eigenen Phantasie zu überlassen. https://de.wikipedia.org/wiki/Lago_Maggiore

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