Der letzte Applaus auf den Laufstegen der Fashion Weeks in New York, Mailand, Paris und London ist verklungen und die Macher der Branche haben sich wieder in ihre Kämmerchen zurückgezogen. Ganz sicher aber nicht, um untätig zu sein und nicht schon im Geiste an neuen Kreationen zu arbeiten. Sprich sich u.a. Gedanken über das Ausgangsmaterial – die Stoffe – zu machen. Denn diese sind die Basis eines jeden optimalen Faltenwurfes, Bewegungsschwunges oder des Glanzes einer Robe.

Da der Trend zur Unisex-Kleidung (meist Sakkos, Hosenanzüge oder offene Röcke mit Hosen darunter) geht, rücken auch hochwertige (Woll)stoffe wieder mehr in den Vordergrund. Zudem strebt die Branche einen Imagewandel an. Weg von minderwertiger Massenware hin zu nachhaltigen, wieder verwendbaren Materialien gepaart mit völlig neuer Optik wie z.B. 3D-Stoffen. Bei nächster Gelegenheit werde ich mir bevorzugt die Herrenmoden-Shows ansehen, die in der Regel stets zwei Wochen vor den Damen an gleicher Stelle stattfinden. Bei den Herren dominiert der Stoff fast noch mehr. Aber wo kommen all‘ diese Stoffe her, werden sie noch lokal oder in Fernost gefertigt?

Um dieser Frage nachzugehen, führte mich mein Weg kürzlich in das Mekka der italienischen Stoffproduktion nach Biella, das zirka 120 Kilometer westlich von Mailand liegt. Namhafte Designer-Unternehmen wie Cerruti und Zegna haben dort ihren Hauptsitz und große Anwesen, die inzwischen auch Museen und Stiftungen umfassen. Sie stellen dort nicht nur in eigenen Spinnereien und Webereien ihre Stoffe her, die beiden zuvor genannten Unternehmen sie sind sogar aus der Stofffertigung hervorgegangen.

Dieses Mal bin ich Gast bei der FILATURA BERTOGLIO, die sowohl eigene Garne herstellt, also auch Lohnfertigung für renommierte Unternehmen betreibt. https://www.filaturabertoglio.com/ In einem außerhalb von Biella gelegenen Gewerbeviertel, vor einer unscheinbaren Halle, treffe ich den Senior-Chef des Unternehmen, Ing. Maurizio Bertoglio höchst selbst. Der zierliche Mann hat es eilig, denn schon morgen reist er zu einer Stoffmesse. Dennoch läßt er es sich nicht nehmen, mich über das ca. 5.000 qm große Gelände zu führen und mir den gesamten Produktionsprozess – von der Wareneingangshalle bis zum Garnlager – zu zeigen.

Eilig hat er es auch deshalb, da die Auftragslage für die Herbst-/ Winterkollektionen gerade überdurchschnittlich gut sei; fast bei 120 Prozent liege und er schon Absagen erteilen mußte. Man arbeite bereits im Dreischichtsystem mit Überstunden, wobei diese dann in den Sommermonaten mit Freischichten kompensiert werden.

Wir starten von dem kleinen Büro aus in die erste Halle, wo sich hunderte von Wollballen (eingeschnürt in Sackleinen) bis unter die Decke stapeln. Alle fein getrennt nach Farben, Wollart und Herkunft. Als da sind: Merinowolle aus Neuseeland, feinstes Kamelhaar und Kaschmir aus der Mongolei, aber auch Alpaka, Angora und Rohseide bis hin zu exotischem Yakhaar. Gute 3.000 Kilogramm werden hier täglich verarbeitet und in verschiedenen Arbeitsschritten letztlich zu Millionen Kilometern Garn versponnen. Die Rohwolle in den großen Kesseln ist so luftig-leicht, daß man sich am liebsten in diese Woll-Wolke hineinfallen lassen möchte.

Gerade hier im Provinzstädtchen Biella findet man DAS Internationale Know-how, um aus flauschigen Haarbündeln feinste Fasern herzustellen. Dabei konzentriert sich die Firma Bertoglio hauptsächlich auf die Produktion von sog. Kardierten Garnen für Dritte. Nur ein kleiner Teil, etwa 10%, wird auf Nachfrage für Sondereditionen produziert.

1946, kurz nach Endes des zweiten Weltkrieges gründete Italo Bertoglio das besagte Unternehmen, das aktuell 45 Mitarbeiter zählt und noch heute von seinen Nachkommen bzw. seinem Sohn Maurizio und seinem Neffen Stefano geführt wird. Auch wenn die Zeiten nicht immer einfach waren, blieb die Liebe zu diesem Textilprozess immer erhalten. „Ingegnere Maurizio“ kennt selbstverständlich alle Maschinen und Arbeitsschritte in- und auswendig und kann jederzeit eingreifen – was er auf unserem Weg mit kritischem Blick auch das ein oder andere mal tut. 

Der mehrstufige Produktionsprozeß

Schon im nächsten Raum ist es deutlich lauter. Hier drehen sich Walzen, rotieren Behälter und wirbeln Gebläse, um die edlen Fasern, aber auch strapazierfähiges Mischgewebe wie Mischwolle mit Baumwolle oder Nylon (für z.B. Möbelbezüge) für den Spinnprozeß vorzubereiten und Reste der Wiederverwertung zuzuführen.

Hauptgrund für den Umstieg auf tierische Fasern war die Verknappung der Baumwolle in den 80-iger Jahren. Verteilt auf acht Karden (Vorrichtung mit der vorstehende Fasern der zu spinnenden Wolle geglättet werden) und über 3000 Spindeln kann Bertoglio ein breites Spektrum an Garnstärken verarbeiten. Die metrische Nummerierung mit dem Kurzzeichen Nm informiert darüber, wie viele Meter eines einfachen Garnes ein Gramm wiegt. D.h. Nm 40 bedeutet, dass 40 Meter Garn, ein Gramm wiegen. Bertoglio’s Spektrum beginnt bei einer Fadenstärke von 3,5 Nm und reicht bis 36.000 Nm (entspricht sage und schreibe 36 Kilometern Fadenlänge pro Gramm), also ultrafeinen Fäden aus Seide.

Eine weitere Besonderheit von Bertoglio ist die Herstellung von kardierten Garnen mit Noppen, wie sie gerne bei Strickwaren verwendet wird. Eine der Karden/ Kardiermaschinen stammt noch aus 1930, aber auch sie ist inzwischen an die elektronische Steuerung angeschlossen, mit deren Hilfe alle relevanten Produktionsparameter überwacht werden. Gerade die präzise elektronische Steuerung habe den Mischprozeß erheblich erleichtert und beschleunigt, so daß man exakt auf die Materialkomponenten und gewünschten Farbabstufungen der Kunden eingehen und zeitnah liefern kann. Zum Image bzw. der Qualität eines Unternehmens gehört zunehmend eine Termin genaue Fertigstellung und schnelle Anpassungsfähigkeit an die Produktionsplanung, die immer kurzfristiger und unvorhersehbarer wird.

Anders als beim Single Malt Whiskey sei es im Falle eines perfekten „Stöffchens“ gerade die Material- und Fadenstärkemischung, also der Blend, der einen einzigartigen, unverkennbaren Look ausmacht. Seine eigenen Stoffe hätten diese gewisse Exklusivität, wobei der spezielle Mix aus den eingesetzten Haaren natürlich Familiengeheimnis sei. Auf den so erzielten Glanz sei er dabei besonders stolz.

Wir wechseln in eine weitere Halle, alles ist sehr sauber sowie mit Luftfilteranlagen und Kehrrobotern ausgestattet, um die Staubbelastung möglichst gering zu halten. Im hinteren Bereich ist eine separate Abteilung nur für weiße Rohfasern installiert, um selbst geringste Farbverunreinigungen zu vermeiden. An einer Stelle, wo weißes Angorahaar verarbeitet wird, riecht es dezent nach Hase. Wer mal live neben den Spinnmaschinen stehen und die Geräuschkulisse wahrnehmen möchte, kann hier in einige Videos reinklicken:

Natürlich sind auch bei Bertoglio Energieeffizienz und Qualitätsstandards ein großes Thema

Man habe daher schon 2019 die Spinnmaschinen mit neuen mechatronischen Köpfen auszustatten. Dank dieser Innovation arbeiten die Maschinen nun nicht nur zuverlässiger, sondern auch energiesparender. Per Display können so nun die Spinngeschwindigkeit und die Garnstärke schnell umgestellt und kontrolliert werden. Das alles hat freilich seinen Preis; jede der Anlagen liegt so um die 500.000 EURO. Zudem kann der Wechsel von einer Charge zur anderen einfacher und günstiger erfolgen. Für ein mittelständiges Unternehmen müssen solche Investitionen erst einmal gestemmt werden. Um die Unternehmensleistung zu verbessern, verfügt das Werk auch über eine 1.000 Quadratmeter große Photovoltaikanlage, die bereits 2012 eingebaut wurde und etwa 15 % der benötigten Energie liefert.

Auch von einer GOTS-Zertifizierung (Global Organic Textile Standard) ist die Rede, um am Markt wettbewerbsfähig zu bleiben bzw. den globalen Herausforderungen gewachsen zu sein. Nicht ohne Stolz berichtet Maurizio, daß die Konkurrenz aus Fernost für sie kein Thema sei, da man an ihr Preis-Leistungs-Verhältnis nicht heranreiche. Das sagt jemand, der zurecht stolz auf das Erreichte und sein Lebenswerk ist.

Die meisten Kunden der „Filatura Bertoglio“ seien eben Italiener, insbesondere aus dem Biella-Cluster“. Diese Ansiedlungskonzentration sei der letzte intakte Verbund an textilen Produktions- und Lieferketten in Europa. Dank dieses Netzwerkes aus Fachwissen, Tradition und Innovation habe man die letzten Wirtschaftskrisen und Konkurrenzattacken gut überstanden und werde dies mit Mut und Herzblut auch weiterhin tun. Zuversicht und Stolz eines „Made in Italy“, das sich ansonsten – ähnlich dem „Made in Germany“ – seit Jahren schwer tut.

Nach gut einer Stunde laufen wir noch immer an Maschinen und freundlichen Mitarbeitern vorbei. Eine Maschine steht gerade still; laut firmeneigenem Mechaniker irgend ein elektronisches Problem, das schnellsten behoben werden will.

Als Haptiker liebe ich es, alles anzufassen und so deutlich zu fühlen, wann ein Garn fest oder elastisch verzwirnt ist, in welcher Phase die Wolle noch eine Vlieslage ohne Fadenstruktur ist oder auch schon wie ein belastbarer Faden aussieht, aber noch weich und leicht zerreißbar ist. Einige Garne zeichnen sich durch extrem gute Verdrehung bzw. Einfach- oder Mehrfachverdrillung aus, andere erhalten ihre Weichheit genau durch das Gegenteil. Die Bezeichnung hochwertiger Stoffe als „edler Zwirn“ gewinnt an diesem Ort einmal mehr an Bedeutung.

Alle diese Informationen prasseln nur so auf mich ein. Doch schon sind wir wieder in dem kleinen Büro angekommen, das das Herzstück der Firma ist und das bis an die Decke mit Papieren, Ordner, Urkunden und Mustern angefüllt ist. Schon wieder klingelt das Telefon.

In Irland, Schottland, Italien und Frankreich hatte ich zuvor schon diverse Spezial-Webereien besucht. Nunmehr hat sich der Anschauungsprozeß auf dem Weg vom Ausgangsprodukt bis zum Kleidungsstück oder einer Heimtextile geschlossen. Man muß daher kein Experte sein, um sich klar zu machen, daß am Anfang jeder Stoffproduktion (aus Naturhaar) stets der perfekte Faden steht, ohne den kein optimales Webergebnis zu erzielen und mithin keine hochwertige Kleidung zu produzieren ist.

Anm.:  Reine Information, keine Werbung, da nur für Wiederverkäufer
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