Vom 09. bis 13.08.2022 empfing die Liederhalle in Stuttgart endlich wieder die internationale Tanzelite. Geschmeidige Körper in wunderschönen Kostümen tanzten zum Rhythmus der Musik von Highlight zu Highlight und setzten nach zweijähriger Corona-Pause in vielerlei Hinsicht neue Akzente. Die perfekte Mischung aus Show und Sport.

Sommer, Sonne und ein bunter Cocktail unterm Sternenhimmel. Dazu eine feurige Salsa oder ein Mambo gefällig? Wie ging das nochmal und klingt wie ein verheißungsvoller Traum zu mitreißenden Melodien aus fernen Tagen. Und doch ist dieses kleine „Urlaubsfeeling“ einfach zu haben, denn regelmäßig finden in Deutschland z.B. nationale und internationale Tanz-Events statt. Gerade sind in Stuttgart die German Open Championships (GOC) zu Ende gegangen. In den verschiedenen Alters- und Leistungsklassen glühte das Parkett nur so. Man mußte nichts anderes tun als zuschauen und bekam obendrein noch die neuesten Mode- und Farbtrends präsentiert. Gerade Eiskunstläufer und Turniertänzer wissen sich nicht nur für den Auftritt perfekt zu stylen, sondern zeigen auch außerhalb der Fläche das gewisse Etwas – eine Augenweide. Bei den Turnierkleidern geht es aber nicht nur um die Inszenierung der Optik, sondern auch um das Unterstreichen des Tanzcharakters.  D.h. man benutzt z.B. Fransen und Flitter, um Bewegungen schneller oder zackiger aussehen und Federn, um schwingende Bewegungen noch zarter  bzw. fließender wirken zu lassen (Rüschen verschlanken Arme und Beine). Alles Kriterien und Nuancen, die  – ohne auf das Bewertungssystem näher eingehen zu wollen – mehr oder weniger (in)direkt oder subjektiv in die Bewertung eingehen. Letztlich sind wir alle „nur“ Menschen und niemand urteilt frei von Sympathie und Empfindungen – gerade bei großer Leistungsdichte.

Klein, aber oho

Da kommen schon die Kleinsten in den Altersklassen Junioren (max. 13 Jahre) und Juveniles (max. 11 Jahre) mit schwarzen Anzügen und Rüschenkleidchen in würdiger Haltung daher. Einige mögen diese „kleinen Erwachsenen“ für dressierte Äffchen halten, ich aber habe größten Respekt vor deren Willen und Leistung. Es wäre zu einfach, das alles als unnötig und übertrieben abzutun. Denn wie heißt es so schön: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“. Auch im späteren Leben heißt es sich zu behaupten und durchzuhalten; sein Bestes zu geben. Je nach Disziplin – Latein oder Standard – hüpfen oder gleiten sie raumgreifend schon wie die Großen über’s Parkett und tun es auch in puncto Mimik Ihren Idolen gleich.

Ich bekomme noch heute Gänsehaut, wenn ich an den Auftritt eines russischen Kinderpaares vor gut zehn Jahren im Rahmen der Siegerehrung bzw. des Siegertanzes denke. Das Rund um die Tanzfläche war gut gefüllt und es erklang … „Mambo Nr. 5“; das heißt das Paar hatte sich seinen Lieblingstanz, einen Jive, dafür ausgesucht. Noch während die kesse Göre zunächst alleine von der Seite her zur Mitte tänzelte, schlitterte der pfiffige Knabe (elf Jahre alt) nach einigen Anlaufschritten auf den Knien mit zurückgelehntem Oberkörper, in die Luft gereckten Armen und verzücktem Blick ca. zehn Meter längs durch den Saal bis zwischen ihre Beine. Mit einem Satz passend zur Musik und süffisantem Blick sprang er auf und legte mit seiner Partnerin eine „kesse Sohle“ auf’s Parkett. Ich bin selten sprachlos, da war ich es.

Seit einigen Jahren erfreuen sich auch andere populäre Tanz-Versionen großer Beliebtheit, wie z.B. integratives Rollstuhl-Tanzen oder Boogie-Woogie. Aber Vorsicht, was scheinbar so leicht und locker getanzt wird, ist oft nicht weniger anstrengend und trainingsintensiv. Die heiteren Boogie-Woogie-Walks, blitzschnellen Drehs, Hüpfer und Hebungen sind oft nur geschickt verpackt in bunte Hemdblusen und Knickerbocker, überstrahlt von unbändiger Lebensfreude. Das muß man live erlebt haben.

Mann und Frau Seite an Seite, alleine geht’s nicht

Das Programm ist eng getaktet und wechselt von Tag zu Tag. Ich liebe die Vielfalt. Los geht’s mit dem Nachwuchs (Juveniles Standard/ Juniors Latein), gefolgt von A-Klasse Latein, Grand Slam Latein und Standard sowie den World-Championships Boogie-Woogie Juniors. Will heißen, zunächst erklingen Klassiker wie Walzer, Tango, Slow Fox (Viervierteltakt) und Quickstep (Swing, ebenfalls Viervierteltakt). Die beiden letzteren sind meine absoluten Lieblingstänze. Als ich noch selbst in einer Latein-Formation (Figuren-Choreographie für 12 Paare zu südamerikanischen Rhythmen) tanzte, bevorzugte ich eher Samba (Zweivierteltakt) und Paso Doble (Zweivierteltakt).

In puncto Slow Fox waren seinerzeit fast immer die Briten dominierend. Einmal hatte ich Gelegenheit eine Master-Class, also ein Training von Champions für zukünftige Champs als Zuschauer zu besuchen. Ein ebenso Denkwürdiges wie Lustiges Event mit Christopher Hawkins und Hazel Newberry (heute beide Ende Vierzig). Die beiden gewannen um die Jahrtausendwende im Standardtanzen so ziemlich alles, was es im Tanzsport zu gewinnen gab, waren mehrfache Weltmeister. Engländer sind immer für eine Überraschung gut und so startete die Stunde mit Chris, der einen Einkaufswagen auf’s Parkett rollte und damit in graziler Haltung elegant umherschwebte. Als gute drei Minuten später Hazel hinzukam, raunte Chris nur: „Oh Hazel, my wonderful shopping basket“. Ziel der Stunde war das perfekte Dirigieren respektive Navigieren der Partnerin über die i.d.R. mit weiteren (konkurrierenden) Paaren besetzte Fläche. Einfacher gesagt als getan, will man bei Kollisionen nicht aus dem Rhythmus kommen und alle wichtigen Figuren in 90 Sekunden pro Runde programmgemäß zeigen. Sprich: sich von seiner besten Seite bei den am Rand stehenden Preisrichtern präsentieren. Chris Hawkins ist ein wahrer Entertainer. Was folgte war mehr ein humorvolles Schauspiel, als eine trockene „Lecture“.

In einem Interview (s. thefreelibrary 1997) beschreiben beide was man außer Talent und Fleiß so alles mitbringen muß, um im Tanzsport bestehen zu können und die Blicke auf sich zu ziehen. Die beiden sind sicher ein gutes Beispiel dafür, wie Tänzer so ticken und wie wichtig die Partnerwahl ist. Hazel und Chris waren beide 17 als sie sich zum ersten Mal trafen. Es war keine Liebe auf den ersten Blick und doch war die Harmonie sofort spürbar. „Wir haben uns täglich 14 Stunden in den Armen gehalten, weil es unser Job war“. Aber es muß eine gewisse Anziehungskraft und innige Beziehung da sein, damit ein Tanz gut aussieht; man im Einklang miteinander ist (beide hatten übrigens den selben Trikot-Schneider wie das berühmte englische Eistanzpaar J. Torvill/ Chr. Dean). Sich gegenseitig Fehler vorzuwerfen sei sinnlos, stattdessen besser üben, üben, um die gewünschte Perfektion zu erreichen. Es dauerte vier Jahre, bis sie auch ein Liebespaar wurden. Hazel schätzt seinen Humor über alles. Chris sagt über Hazel: „Sie ist eine nette, sanfte Person – sie erträgt mich“.

An dieser Stelle sei gesagt, daß im Tanzsport noch Raum für Geschlechterparität ist. Hier wird der Mann noch immer zuerst genannt; die Frau manchmal gar nur beim Vornamen. Es geht offenbar auch ohne zwanghaftes Gendern.

Live ist Life – Sehen und gesehen werden

Nun aber geht’s in medias res. Kaum hat man das Foyer betreten, herrscht ein unglaubliches Gewusel. In einer Ecke werden zum Aufwärmen noch die letzten Figurensequenzen geprobt, an anderen Stellen sind Verkaufs- und Verpflegungsstände aufgebaut, Zuschauer suchen nach den letzten freien Sitzplätzen. Von überall her klingt Musik. Die herkömmlichen alten Opernmelodien haben ausgedient, stattdessen sind  frische französische Chansons und Musettewalzer zu hören. Für einen Moment schließe ich die Augen und fühle mich 40 Jahre zurück, als ich vor Wettkämpfen tausende von Pailletten zur Ergänzung selbst auf meine Kürkleider genäht habe. Auch ein schöner Rücken kann entzücken. Heute ist das Sortiment an Stretch- und Glitzerstoffen sowie fertigen Tanz-Kostümen unendlich vielfältig.  In herkömmlichen Geschäften shoppe ich bis heute wenig, aber hier lacht angesichts des Angebots mein Herz. Viele Dinge kann man gut für den Alltag zweckentfremden. Wie z.B. transparente, rutschfeste Absatzschoner, federleichte Schuhe oder originell schräg geschnittene Rüschenshirts etc. Selbstverständlich gibt es auch Makeup- und Frisurentipps. Glänzender Haarlack zur optimalen Fixierung ist und bleibt in allen Altersklassen Trumpf. Dasselbe gilt für die den bronzierten Touch aus der (Bodypaining)-Sprühpistole.

Kaum habe ich Platz genommen, starten auch schon die Jüngsten. Eine begeisterte Mutter drückt mir für das anstehende Finale spontan eine litauische Flagge und einige Fähnchen zum Anfeuern ihres Paares in die Hand. Sie weiß: „Klappern gehört zum Handwerk“. In der Tat zählen Litauen, Rumänien und Moldawien in Abwesenheit von Rußland mittlerweile zu den führenden Tanznationen. Insgesamt sind mehr als 50 Nationalitäten vertreten; selbst Länder wie Malaysia, Usbekistan und Lesotho sind dabei. Kein Wunder, daß die Turniersprache Englisch ist.

Dann wird es unübersichtlich, denn 98 Lateinpaare flirten mit dem Publikum und wetteifern um Aufmerksamkeit und Gunst der Schiedsrichter. Es finden pro Tanz also mehrere Runden mit je 12 Paaren statt. Jedes Mal haben die Preisrichter nur 90 Sekunden Zeit die Spreu vom Weizen zu trennen. Das klingt hart, ist aber so. 90 Sekunden, in denen bis zur Erschöpfung – über einen ganzen Tag hinweg – von der Vorrunde bis zur Endrunde – mal mit einem Lächeln, mal mit Dramamiene – alles gegeben wird. Mehrere  Stunden lang über alle Qualifikationsrunden bis hin zur „final heat“ nicht nur Leidenschaft zu zeigen, sondern die physische und mentale Spannung zu erhalten, ist eine Herausforderung. Vor jeder Wertungsrunde macht sich neben Erschöpfung vor allem Nervosität breit. Meine persönliche Entdeckung heißt David Babel, obwohl das tschechische Couple nur 33. wurde. Sieger in dieser Klasse wurden die Deutschen Kalistov/ Albanese (für Insider: Luna-Marie ist die Tochter von Roberto Albanese (!) Grün-Gold Bremen).

Die Veranstaltungshallen Hegelsaal, Beethovensaal und die architektonisch phantastische Alte Reitschule sind brechend voll, aber alle gehen rücksichtsvoll und höflich miteinander um. Plötzlich wird es laut, denn eine Gruppe gelb-blau gekleideter Schweden zieht per Polonaise ein. D.h. eine weitere Runde Boogie-Woogie steht als nächstes auf dem Programm. Dort sind sie zwar nicht führend, aber sie haben den größten Fanclub mitgebracht. Das perfekt organisierte Sicherheits- und Organisationsteam (rund 450 Ehrenamtler) läßt sie mit Augenmaß gewähren. Die Stimmung beginnt zu brodeln und Eingeweihte setzen sich bevorzugt auf den Boden unmittelbar an der Tanzfläche. Jetzt heißt es „We will rock you“ und in der Tat geht’s zur munteren Swingmusik rund. Da zuckt es einem in den Füßen und die Hände beginnen automatisch zu schnippen. Herrlich! Nach nur wenigen Stunden GOC fühlt man sich um Jahre jünger. Gott sei Dank war auch die Klimaanlage in Funktion. Wie auch immer, der WM-Titel geht an Italien, ich hätte die zweitplatzierten Franzosen Vitrani/ Legros vorne gesehen. Es ließe sich noch viel berichten, aber  nichts geht in dieser Sportart über die Live-Atmosphäre – „da steppt der Bär“, da fliegen auch mal Schuhe und Maskottchen durch die Luft. Die Top-Paare wirbeln mit derart viel Schwung und Dynamik an einem vorbei, daß ein regelrechter Luftzug entsteht. Einfach mal für’s nächste Jahr die Woche vom 15.- bis 19.08. vormerken, denn im TV wird Tanzsport leider eher selten übertragen. Als ich die Liederhalle an diesem lauen Sommerabend schließlich verlasse, funkeln tatsächlich schon die Sterne und für einen Moment scheint die Welt wieder im Einklang.

Wer seinen Titel verteidigen konnte und in welchen Klassen neue Meister gekürt wurden, kann gerne unter dem folgenden Link nachgelesen werden. https://www.goc-stuttgart.de/

p.s. Abschließend sei angemerkt, daß auch bei dieser Meisterschaft die russischen Sportler*innen von einer Teilnahme ausgeschlossen waren. Ich teile diese „Sippenhaft-Regelung“ (in allen Sportarten) grundsätzlich nicht, was Kinder und Jugendliche bzw. Sportler im Amateurstatus angeht. Bei Profis mag man so verfahren, aber pauschal werden so zweifelsohne die Falschen „bestraft“, nur weil sie zufällig in diesem Land geboren sind. So schürt man m.E. nur weiteren Hass, als Hoffnung auf Einsicht und Wandel. Zudem sind russische Tänzer*innen im Tanzsport wie im Eissport seit Jahrzehnten  überdurchschnittlich erfolgreich vertreten. Geht man die Teilnehmerlisten durch, finden sich seit Jahren überdies viele russische Namen, die „per Outsourcing“ als Dame oder Herr für andere Nationen an den Start gehen und vom Embargo ausgenommen sind. Ohne Frage ein leidiges Thema.

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