Die Sonne lacht, unter dem stahlblauen Himmel glitzert eine tief verschneite Winterlandschaft.

Gerade ist im Bünda-Stadion von Davos der FIS Nordic Weltcup zu Ende gegangen, wo die weltbesten Damen und Herren des Skilanglaufes unter dem jubelnden Anfeuerungsrufen des Publikums um die Podiumsplätze gefightet haben. Oft entscheiden nur ein paar Zentimeter über Sieg und Niederlage; manchmal ist es einfach nur Pech, wenn ein Athlet Stockbruch erleidet oder in einer engen Kurve durch eine Spurrille oder Eisplatte zu Fall kommt.

Wie viele Komponenten maßgeblich am Erfolg beteiligt sein können, weiß ich aus eigener Eiskunstlauf-Erfahrung. Gerade bei den sog. Pflichtfiguren oder Eistanzschritten ist kantenreines Laufen bei der Bewertung das Maß aller Dinge. Trotz allem Talent und Trainingsfleiß können minimale angeborene körperliche Defizite wie Beckenschiefstand oder X-Beine, die Leistung jedoch schmälern. Hinzukommt, daß unpassendes Schuhwerk im Fuß- oder Schienbeinbereich oft schmerzhafte Druckstellen verursacht, was Sportspaß oder erfolgreiches Training verhindert oder gar zu Reizungen wie Schleimbeutel- oder Achillessehnenentzündung führen kann. Wie bei Alltagsschuhen auch, können orthopädische Maßnahmen wie Einlagen oder Zusatzpolster diverse Fehlstellungen ausgleichen, d.h. es werden Maßstiefel angefertigt.

Ganz ähnlich ist es auch im Skisport. Um Näheres darüber zu erfahren, bin ich mit Hans-Martin Heierling verabredet, dem Inhaber und Geschäftsführer der gleichnamigen ortsansässigen Firma, die wie keine andere für „Bootfitting nach Maß“ und nachhaltiger Kreislaufwirtschaft steht. Und nicht nur das: sie ist urkundlich dokumentiert der älteste Skischuhhersteller der Welt. Der ursprünglich reine Schuhmacherbetrieb ist hier am Bahnhof von Davos-Dorf seit 1885 (!) ansässig. Hans Heierling II (*1925) tritt als Lehrling in die Firma ein. Trotz der Kriegsjahre 1939 bis 1945 wird die Herstellung von Skischuhen fortgesetzt. Schweizer Beständigkeit eben.

Schon bei Eintritt beeindruckt linker Hand die riesige „Wall of Fame“ derjenigen internationalen Skisportler, die auf die Kompetenz des Familienunternehmens in vierter Generation schwör(t)en. Obwohl es bereits Samstagnachmittag ist, herrscht im Laden und dem Wartebereich noch reger Betrieb. Da wird mit flinken Händen an geöffneten Skischuhen hantiert, gehämmert, mit Zangen geweitet oder im Raum nebenan Füße und deren Druckverteilung mittels Laseranalyse vermessen.

Nirgendwo dürfte man die Entwicklungsgeschichte des Skischuhs so hautnah erleben wie in diesen Räumen. In einer kleinen Nische zeigt mir der Chef nicht nur die Familien-Chronik, sondern hat an der Wand auch alle maßgeblichen Schuhmodelle der letzten 100 Jahre aufgereiht. Sofort sind wir in medias res und die Informationen zu den einzelnen Stiefel-Generationen sprudeln nur so aus dem Mid-Fünfziger hinaus. Nimmt man einen dieser historischen Lederschuhe in die Hand, überrascht deren Gewicht und der Anblick der massiven (Sohlen-)Nähte läßt die handwerkliche Wertarbeit erspüren. Innovatives Unternehmen und lebendiges Museum zugleich. Manche Designs früherer Zeiten erinnern an James-Bond-Accessoires wie der mittig zu öffnende „Sarg“. Andere , wie die kniehohen Glanzlack-Stiefel, scheinen einem Hollywood- Sciencefiction entsprungen. Neben einigen Farbtupfern dominiert die Farbe Schwarz und selbstverständlich war/ ist jeder Schuhtyp auf die Ski- und Bindungstechniken der jeweiligen Jahrzehnte abgestimmt.

Dabei haben zwei Trends das Skischuhwesen maßgeblich revolutioniert: einmal der Wechsel vom dick gepolsterten Leder- zum Kunststoffschuh Anfang der 70-iger Jahre und zweitens die Trennung von Außen- und Innenschuh. Das Konzept des Bootfittings, des individuellen Anpassens von Skischuhen (insbesondere des federleichten Innenschuhs), ist ebenfalls erstmals von Heierling in die Welt getragen worden. 1972 erschien das Modell „Hot Shot“. Es war der erste Custom Made Skischuh mit geschäumtem Innenschuh. Bereits zuvor hatte man durch Schnürungen und Drehschraubenzüge auf den Spann und im Fersenbereich versucht, den harten Skischuh (innen) optimal an jeden Fuß anzupassen, mit dem Ziel der besseren Kraftübertragung, Sicherheit und Bequemlichkeit.

Und genau beim Innenschuh setzt Heierling’s Leistungspalette der Anpassung an. Zwar können bei bedarf auch Wander- und Langlaufschuhe individuell bearbeitet werden, aber über 90% des Geschäftes betreffen Alpin-Skischuhe. Kurzzeitig war das Einzelunternehmen mal Teil der Firma Salomon, um die  Jahrtausendwende wurden alle Anteile jedoch wieder vollständig zurückgekauft. Nicht ohne Stolz sind so im Laufe der Zeit gute 180.000 Paar Skischuhe über die Theke gegangen. Und das bei aktuell nur sieben Mitarbeitern, wo früher einmal bis zu 20 Schuhmacher hinter den tief gezogenen Fenstern saßen. Heute verfolge man eine Doppelstrategie: einerseits sei man auf Herstellverfahren und Kooperationen mit großen Firmen wie Salomon und EMS angewiesen, anderseits verfolge man auch eigene innovative, nachhaltige Entwicklungsziele. So z.B. das Herausbringen des Modells mit der Bezeichnung „H1„. Hintergrund ist, daß je Skischuh mindestens 350 Einzelteile an Schnallen, Federn, Laschen, Schrauben und Spritzgußformen gefertigt werden müssen; das könne man als Kleinunternehmen  nicht stemmen. Heierling will sich viel mehr auf Nachhaltigkeit bzw. möglichst vollständige Kreislaufwirtschaft konzentrieren. Spontan zeigt mir mein Gesprächspartner einen kleinen Beutel schwarzes Kunststoffgranulat (Polyuretan). Der Inhalt war mal die Außenhaut eines Skischuhs und kann es jederzeit (bis zu 10 mal) wieder werden. Voraussetzung ist allerdings ein modularer Aufbau bzw. die strikte Trennbarkeit der Materialien. Ich gestehe, daß mir mindestens ebenso das tolle Design in’s Auge sticht – Skischuh-Fashion mit wissenschaftlichen Anspruch.

Sicher hat so ein Individual-Modell wie der „H1“ seinen Preis, aber dafür sind alle Teile individuell austauschbar und reparabel, können Kratzer wie bei einem Schmuckstück au(s)fpoliert sowie optische und orthopädische Elemente über die Jahre mehrfach angepaßt werden. Ein zeitloses Gesamtkunstwerk für eine lebenslange Nutzung, an dem im Hinblick auf die Tradition auch etwas Leder nicht fehlen darf. Wer mehr darüber und sonstige Firmendetails wissen möchte, findet diese auf der Website: https://www.heierling.ch

Wie viel Wissenschaft insbesondere in der Innenschuhausstattung steckt, zeigt folgender – insbesondere für den Langlauf – wichtige Aspekt: Gelingt es eine leichte Hüftfehlstellung per intelligenter Einlage auszugleichen, kann diese im Vortrieb pro (Skating)Schritt zwischen 0,3 bis 0,5 Zentimeter ausmachen. Klingt wenig, summiert sich über den Kilometer bei durchschnittlich 60 Schritten pro Minute aber auf fünf Meter und mithin eine Zeitersparnis von 1-3 Sekunden (je nach individueller Laufgeschwindigkeit). Gut darum zu wissen, daß solche Aspekte der Biomechanik bzw. der Sportorthopädie nicht nur FIS Rennläufern/ Spitzensportkern vorhalten sind, sondern auch von Freizeitsportlern genutzt werden können. Demzufolge ist „Entwickler Heierling“ auch Inhaber  mehrerer Patente, wie der I-Flex-Technologie und dem Templast-Kunststoff für Schalen-Skischuhe. Heierling bringt seine Ideen auch in die Initiative „Next Generation“ ein, die 2017 in Davos gegründet wurde, und der mittlerweile 110 Firmen und Start-Ups angehören.

Inzwischen ist es 16.30 Uhr und noch immer gehen und kommen Kunden, die offensichtlich schon seit Jahren im Hause bekannt sind oder einen Erstberatungstermin gemacht haben. Hier wird durch das „Team Heierling“ jedem geholfen. ER muß nun weiter. Auch wenn ich es bereits ahnte, kann ich nur sagen: danke für diese umfassenden Einblicke und das individuelle, offene Gespräch.

Ich habe keine Zweifel an der weiteren Erfolgsgeschichte, denn alle Attribute wie Passion, Mut, Fleiß, Überzeugung und Vertrauen in das eigene unternehmerische Tun sind Programm. Das weiß der Firmenchef und lächelt bescheiden. Überdies scheint er mit dem Nachhaltigkeitskonzept den Zeitgeist zu treffen. Mag das Kunststoffrecycling (preislich) nur einen kleinen Anteil daran haben, es ist ein Anfang. Wer weiß, wo die Technologie noch hingeht. Aber selbst wenn demnächst alles aus dem 3D-Drucker kommt, stehen dahinter kluge Köpfe.

Wäre die Schweiz eine Monarchie, hätte man den Heierlings für ihre Kompetenz in Sachen maßgeschneiderte Problemlösungen sicherlich schon den Titel „Sporthopedic Hoflieferant“ verliehen.

 

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